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Reden ist silber...Schreiben ist gold

16.03.2013 Cicero-Kulturchef im Gespräch mit Christopher Lesko

GFDK - Christopher Lesko

Er gilt als einer der schärfsten Kritiker des RTL-Erfolgsformates “Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!“: Medienwissenschaftler und Kulturjournalist Dr. Alexander Kissler, 42, leitet das Kulturressort, den “Salon“, beim Monatsmagazin Cicero. In Berlin traf er mit MEEDIA-Autor Christopher Lesko einen Gesprächspartner, der zum Dschungelcamp eine gegensätzliche Haltung vertritt: Begegnung zweier Männer und Haltungen für ein langes Gespräch über Ekel und Moral, über Niveau, Erfolg und Handwerk.

RTL-Dschungel - widerlich oder lebensnah?

Alexander Kissler, wir sind zusammen gekommen, um uns auseinander zu setzen. Mit welcher Stimmung und welchem Ergebnis werden wir beide aus Ihrer Sicht nach Ende unseres Treffens in etwa zwei Stunden auf das vor uns liegende Gespräch zurückblicken?

(Lachend:) Es könnte sein, dass wir voneinander genug haben oder vom Dschungelcamp genug haben. Vielleicht haben wir eine neue Sichtweise kennen gelernt, Ich fürchte eher, dass wir gemerkt haben werden, dass das Thema nicht so lange trägt.

Ich bin optimistischer, weil ja auch wir das Thema tragen. Was am Thema des Dschungelcamps trägt denn nicht so lange?

Na ja, das Meiste ist schon gesagt worden. Auch von Ihnen und von mir erschöpfenderweise. Man arbeitet sich schnell an Typen und Charakteren ab, und damit ist man doch schneller zu Ende, als es uns eine intellektualisierende Kritik einreden will.

Sie haben ja in Ihrer Kolumne “Kisslers Konter“ bei Cicero online RTL und das Dschungelcamp scharf kritisiert, und Sie kennen ja auch meine an einigen Stellen diametrale Haltung. Fassen Sie doch bitte Ihre Sichtweise auf “Ich bin ein Star - Holt mich hier raus“ noch einmal kurz zusammen.

Das ist ein widerliches Format. Das Widerliche ist die Geschäftsgrundlage des Formates: Wir sollen Menschen dabei zuschauen, wie sie eklige Dinge tun, zu denen eigentlich kein Mensch bereit ist. Diese Menschen tun es dennoch, weil sie gierig sind nach Aufmerksamkeit und/oder Geld. Und wir schauen dennoch zu, weil wir einen gewissen angenehmen Schauder spüren, wenn wir sie bei Verrichtung dieser ekelhaften Dinge beobachten.

Insofern bringt das Format - bei dem die einen mitmachen und die anderen zuschauen - eigentlich nur schlechte Eigenschaften zum Vorschein: Schadenfreude und Unterwerfungsbereitschaft. Es ist es ein Format, vor dessen wachsendem Interesse ich mit Staunen stehe und dessen Auswirkungen nichts Gutes bergen.

Welche Auswirkungen?

Natürlich gibt es keine empirischen Untersuchungen über etwa Verrohung als Auswirkung bei den Betrachtern. Aber man gewöhnt sich doch daran, dass man Menschen widerwärtige Dinge zumuten kann. Das halte ich für keinen guten Zug. Die Dinge sind einfach ekelhaft und widerlich, egal unter welchen Bedingungen sie zustande kommen. Sie sehen das ja anders.

Ja, für mich ist der Dschungel  ein an vielen Stellen unterhaltsames, professionell gemachtes Format. Ich selbst ängstige mich nicht, durch Betrachten des Formates roher zu werden als ich ohnehin möglicherweise schon bin. In mir löste manche hohle Politiker-Laberei in redundanten Talk-Shows mehr Aggression aus als dynamische Prozesse im Dschungel mit Campern, die in Kontakt mit Grenzen geraten.

Die RTL-Psychologen argumentieren ja, die Teilnehmer seien alle Medienprofis, die genau wüssten was sie tun: Nein, das sind sie eben nicht! Ein 19-jähriger Joey, der mal in einer Casting-Show war, ist ebenso wenig ein Medienprofi wie eine Iris Klein oder andere. Man lässt dort Menschen in eine Situation kommen, die viele von ihnen nicht überblicken.

Ich finde das Psychologen-Argument auch falsch, wenn auch aus haarscharf anderen Gründen. Jeder Teilnehmer, der vorher den Dschungel im Fernsehen gesehen hat, ist als Teilnehmer plötzlich in der Situation eines Sportkommentatoren, der seine Kabine verlässt und plötzlich im Spiel den Elfmeter versenken muss. Zentral Beteiligter zu sein, ist es etwas völlig anderes, als die Dinge vorher von außen betrachtet zu haben. Wie viele Staffeln von “Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!“ haben Sie denn gesehen?

Ich habe mich ja im Zuge meines Buches “Dummgeglotzt“ mit dem Format beschäftigt. Da habe ich die komplette Staffel gesehen. Von allen anderen Staffeln sah ich immer wieder einige Folgen, auch wenn mein Interesse abnahm.

Sie nutzen für Ihre Kritik vordringlich den Blick auf ethisch-moralische und humanitäre Aspekte. Dies ist aus meiner Sicht jederzeit ehrenwert, aber auch eindimensional. Teilen Sie meine Haltung, dass Art und Zugänge unserer Bewertungen und Beobachtungen wesentlich von Aspekten unserer eigenen Entwicklung, Sozialisation und Erfahrungen bestimmt sind?

Ein Serienkiller wird Schusswaffen anders wahrnehmen als jemand, der als Bankkassierer Opfer eines Überfalls war. Und, um in meinem gewöhnungsbedürftigem Bild zu bleiben: Einem Serienkiller immer wieder nahe zu bringen, es sei doch irgendwie lausig Menschen umzupusten, ignoriert eben auch vorhandene Fähigkeiten: Präzision der Schusstechnik, Kontrolle des eigenen Blutdrucks, oder sich nicht erwischen zu lassen.

Ein Serienkiller hätte all diese Fähigkeiten besser nicht. Dann würden mehr Menschen am Leben bleiben. Was den Rest angeht: Das ist völlig richtig, und als Medienjournalist muss ich natürlich zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, dass das Format gut gemachte und wirkungsvolle Unterhaltung ist, die ihren Zweck erfüllt, maximales Interesse auf dem Weg von Unterhaltung zu entfachen. Dieser Zweck wird erreicht. Insofern muss man sagen, die Produktion erfüllt die formalen Kriterien gut gemachter Unterhaltung.

Ich denke allerdings, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt. Diesen Ansatz der Betrachtung finde ich sehr bedenklich. Folgte man ihm, gäbe es wahrscheinlich noch ganz andere Formate, die deutlich stärkeres Interesse bekämen: Unterhaltungsformate, in denen es noch stärker um körperliche Demütigung, Schmerz-Situationen oder Grenzerfahrungen ginge. Die Frage ist doch, warum gewöhnen wir uns in kürzester Zeit so schnell an ein Format, dessen Kern es ist Menschen in widerwärtige Situationen zu bringen? Meine These ist eben auch: Wir stumpfen ab.

Ich sehe den Kern des Formates darin, in einer verdichteten Situation unterhaltsam Themenfelder zu vermitteln, denen wir alle letztlich immer begegnen. Abzustumpfen ist aus meiner Sicht ein komplexes Phänomen unserer Zeit, in welcher sich tradierte Werte insgesamt ändern und flüchtiger werden. Einer Zeit, in der Kontakt und Information auch deshalb wertloser und beliebiger werden, weil sie auf allen Ebenen scheinbar unendlich verfügbar sind.

Auch in dieser Frage ist der Dschungel ein vitales Gegenmodell. Ich widerspreche dem Abstumpfen nicht. Ich glaube nur, es hat andere Gründe. Was an Ihrer Entwicklung auf Ihrem Weg zum Erwachsen-Werden war für Sie so kräftig, dass es den erwachsenen Medienjournalisten Alexander Kissler so hartnäckig seinen Fokus von Ethik und Werten wählen ließ?

Weiß ich nicht.

Es gäbe schon auch die Möglichkeit darüber nachzudenken.

(Lachend) Vielleicht aber nicht in diesem Forum. Ich glaube auch nicht, dass alles biographisch begründbar ist.

Unser Leben irgendwie schon.

Ich denke, das wird häufig überschätzt, und ich denke auch, dass man zu Einschätzungen bestimmter Situationen kommen kann, ohne sie durch einen geraden oder krummen Lebensweg herleiten zu müssen. Mit Sicherheit würde mir beim längeren Nachdenken das eine oder andere einfallen, und Sie haben auch Recht, dass es in der Betrachtung von Medien der menschliche Faktor ist, der mich am meisten umtreibt. Welches Bild von Menschen gezeichnet wird, interessiert mich in allen Feldern: in der Politik, im Show-Geschäft, der Unterhaltung und im Sport. Ich denke, was wir für ein gutes Mensch-Sein halten, hat sich in kurzer Zeit sehr schnell geändert.

Vielen Dank für Ihre ausführliche Beschreibung Ihres Lebensweges. Wenn Sie von Menschen sprechen, fokussieren Sie primär den humanistisch edlen Teil des emotionalen menschlichen Spektrums.

Mich interessiert der Mensch an sich, wie er erscheint, wie er anderen erscheint. Auch in meiner Zeit als Regisseur am Theater hat mich diese Frage stets interessiert: Wie ist der Mensch beschaffen, was zeichnet ihn aus, wo gibt es Grenzen, und wo wird es unmenschlich. Das ist, so glaube ich fest, die Frage unserer Stunde heute.

Wenn wir beide nun als zwei Menschen mit möglicherweise sehr unterschiedlichen Lebenswegen, Erfahrungen und inneren Zugängen zur Betrachtung des Dschungelcamps miteinander reden: Wo bleibt in Ihrer Betonung  von Menschen und Menschenbild die dunkle Seite von uns, die wie die verdeckte Seite eine Münze untrennbar zu uns und unseren edlen Seiten gehört? Eine Seite, die ungerecht, grausam, hilflos, ignorant und gar nicht edel ist?  Beide Seiten werden vom Camp gezeichnet.

Natürlich gibt es diese Seiten und diesen Zusammenhang. Meine Frage ist, ob es denn die Aufgabe von Unterhaltung sein darf, diese schlechten Seiten ans Licht zu zerren. Und da sage ich: Nein, das ist nicht die Aufgabe von Unterhaltung! Da überschätzt sich das Dschungelcamp. Da wird es maßlos und anmaßend. Da meint es, und es funktioniert ja auch leider Gottes, auf bestimmte Knöpfe drücken zu müssen, um bestimmte Effekte zu erzielen, und schon gehen sich die Leute an die Wäsche. Ja, es funktioniert. Aber es ist traurig, dass es funktioniert. Letzten Endes hat das Format einen sehr diktatorischen Blick auf die Menschen. Sie werden wie Versuchstierchen behandelt, man steckt sie in ein künstliches Ambiente, entzieht ihnen die Nahrung, und schon gehen die Leute aufeinander zu.

Sie meinen “los“. Aber “zu“ stimmt eben auch. Haben Sie persönlich Erfahrungen in ihrem Leben mit Krisen und der Konfrontation mit Ihren Grenzen je gemacht?

Natürlich. Mit gesundheitlichen oder beruflichen Krisen.

Wenn Sie Ihren bevorzugten Blick um andere Aspekte erweitern, die das Format ausmachen: Wie finden Sie etwa die Produktion, Dramaturgie, Intelligenz und Witz der Autoren-Texte oder die Art und Weise, in welcher die Moderatoren durch die Sendung führen? Also neben Licht, Schnitt, Bildern, Musik und Ton handwerkliche Facetten.

Ja: Die handwerklichen Fähigkeiten, die die Macher entwickeln, sind in der Tat sehr groß. Aber sie werden in ihrer Betrachtung weit überschätzt. Man ist zu einem hohlen Ästhetizismus bereit, betrachtet die Mache und nicht mehr das Material. Die Mache ist selbstverständlich sehr gut. Natürlich funktioniert es, verschiedene Leute in verschiedene Rollen zu setzen und sie durch Anreize dazu zu bringen, der Rolle gemäß zu handeln. Jemanden festzulegen auf die Zicke, das Dummchen oder den Macho, die eitle Schöne oder die schwachbelichtete Frau reiferen Alters.

Da haben Sie aber nett über Iris gesprochen.

All dies funktioniert hier sehr gut: aber eben in einem Medium, das ich für zu abgründig halte. Man darf sich bei allen Beobachtungen nicht darüber hinweglügen, dass wir es mit einer Zur-Schau-Stellung von Fäkalsprache und ekelhaften Vorgängen zu tun haben. Man muss gerade dies auch mal erwähnen.

Die Idee, Produktion und Sender bestimmten Rollenbesetzungen umfänglich, unterschätzt meiner Ansicht nach die Eigendynamik gruppendynamischer Prozesse in Belastungs-Kontexten. Wenn Sie also der Produktion von “Ich bin ein Star - Holt mich hier raus!“ große handwerkliche Fähigkeiten zusprechen, wieso schreiben Sie dies nicht? Reduzieren Sie komplexe (Format-) Wirklichkeit in Ihrer Kritik nicht auch auf einen bestimmten Aspekt und verfahren dadurch genau so, wie Sie es den Dschungel-Machern im Umgang mit ihrem Format vorwerfen?

Nein, das tue ich nicht. Natürlich schreibt man immer im Echoraum derer, die schon geschrieben haben. Kein Text kann eine Debatte mit allen Verästelungen noch einmal aufgreifen. Und über die handwerklichen Aspekte öffentlich positiv zu schreiben, das tun doch andere nun wirklich genug. Da muss ich es nicht auch noch schreiben. Der allgemeine Tenor ist: Das Dschungelcamp ist eine sehr gut gemachte Unterhaltung, vor der wir alle geschlossen den Hut ziehen.

Meine Frage, wie sehr Sie selbst den Zielen Ihrer Kritik möglicherweise gleichen, hat Ihren freudigen Zuspruch nur ungelenk finden können.

(Lachend) Ich bitte um Wiederholung: Vielleicht war Ihre Frage nicht ausreichend präzise formuliert.

So kenne ich mich. Ich habe als Nichtswürdiger auch meine Grenzen. Ich bot Ihnen die strategische Nähe zu den Dschungelcamp-Machern an: Die reduzieren Ihrer Meinung nach Menschen auf inhumane Zerrbilder, und Sie reduzieren Ihre Kritik am Format auf moralische Gesichtspunkte – ein identisches Vorgehen mit den ethisch attraktiveren Zielen auf Ihrer Seite.

In meinem Buch “Dummgeglotzt“ habe ich dies nicht getan. In manchen Kommentaren allerdings, da gebe ich Ihnen Recht. Ich tue es bewusst. Mit Absicht. Nur im Streit, in der Debatte, kommt man in der Wahrheitsfindung voran, und dazu ist es nötig, einen Return zu setzen.

Streit - haben Sie denn Ihrer Einschätzung nach dafür die nötige innere Beweglichkeit?

Ja! Ich habe zumindest die Beweglichkeit derer, die mich interviewen.

Langsam wird es mit unserem Kontakt, das gefällt mir. Über Ihre Entwicklung wollten Sie ja nicht so richtig sprechen?

Das ist richtig.

Was ist denn nicht in Ordnung mit Ihrer Entwicklung?

(Lachend) Das ist ein rhetorischer Trick. Herr Lesko. Sie sind angezogen: Was ist mit Ihrem nackten Körper nicht in Ordnung?

Ich möchte diese widerlichen Dschungelcamp-Aspekte aus unserem beschaulichen Austausch heraushalten. Auch wenn ich ein wenig bewundere, wie fein Sie den wesentlichen Aspekt  unseres bisherigen Gespräches mit Ihrer Bemerkung noch einmal herausgearbeitet haben.

Das Dschungelcamp ist ein Körperformat.

Immerhin beobachten wir beide, dass über eine lange Zeit Kritik und Journalisten-Kommentare den Dschungel – wie Sie aktuell – durchgängig als Ekel- oder Trash-TV zur Zielscheibe von Kritik machten, um dann wie Fähnchen in Winden dasselbe Format zu Comedy, Kunst oder Kult zu erklären.

Genauso ist es. Einerseits gehorcht dies dem journalistischen Gesetz, nur die Abwechslung erfreue. Dafür habe ich in gewissen Grenzen auch Verständnis. Andererseits werden Fronten gezeichnet. Wenn ich gerade beim geschätzten Kollegen Poschardt lese, es sei wohlfeil, das Dschungelcamp zu kritisieren: Das Gegenteil ist der Fall! Es ist wohlfeil, es zu belobigen und es quasi heilig zu sprechen. Es gibt kaum noch fundamentale Kritik an diesem Format, das über die Jahre noch ekliger geworden ist. Das zu beobachten ist sehr erstaunlich.

Welche Erklärung haben Sie denn dafür?

Neben dem Gebot der Abwechslung: Man muss Themen eine Zeit lang kritisch in den Fokus nehmen, um sie später positiv beurteilen zu können. Und dann: Populismus! Ein Format, das über Jahre hinaus hohe Popularität qua Quote bewiesen hat, weiter vordringlich kritisch zu betrachten, ist für viele Journalisten nicht mehr sexy.

Wie viele Journalisten haben Sie gefunden, die nach dem Wechsel ihrer Haltung schrieben, sie hätten sich geirrt und wären nun anderer Meinung?

Niemanden. Man schreibt heute in denselben Foren und Formaten unkommentiert anders über den Dschungel. Ihre Frage müssten Sie denjenigen selbst stellen. Es ist ein dauerhaft erfolgreiches, journalistisches Phänomen, die Dinge auch einmal von der berühmten anderen Seite sehen zu wollen. Journalisten und Autoren sehen sich ja ständig mit dem Vorwurf konfrontiert, sie pflegten ihre abgehobenen Vorurteile. Von Neurosen will ich gar nicht sprechen.

Sich diesem Vorwurf nicht aussetzen zu müssen, ist ein starkes Motiv. Man will also zeigen: Wir können auch lustig. Wir können Derbes, Lustiges, Grenzwertiges gut finden. Damit spricht man sich auf angenehme – und seinerseits intellektuelle – Weise vom Vorwurf des Intellektualismus frei. Wir beschreiben Trash so, als würden wir Trash gut finden. Für mich jedoch bleibt Trash Trash.

Die Bereitschaft zur Flexibilisierung von Standing und Position ist sicher häufig eine Form professioneller, journalistischer Deformation. Ich schätze dies auch nicht.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die politische Kommentierung: Zwei, drei Landtagswahlen genügen, um aus ewigen Bremsklötzen Hoffnungsträger zu machen und umgekehrt. Bis zum nächsten Anlass. Dann geht es wieder in die andere Richtung, und exakt dieselben Protagonisten werden wieder als Versager durch die Arena geführt. Der Journalismus ist heute an vielen Stellen meinungsgetrieben und setzt viel zu sehr auf Aufmerksamkeit.

Mehr über den Autor: www.leadership-academy.de

(c) meedia.de

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16.03.2013 ein gieriger alter kranker Mann

GFDK - Heinz Sauren

Seit nunmehr fünf Jahren schwappt die kapitalistische Systemkrise, in immer neuen Schüben und neuen Etiketten über den Globus. Finanz-, Währungs-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise waren die wechselnden medialen Erklärungen, für eine Symptomatik, die so ungeheuer scheint, dass niemand sie bei ihrem Namen nennen will.

Den Betroffenen, zumeist weniger gut betuchten Menschen, ist die wechselnde Deklarierung längst egal geworden. Bei ihnen kommt eine immer gleiche Wirkung an und offenbart wirkungsvoll, das eigentliche Wesen der wirtschaftlichen Verwerfungen.

Entgegen allen Verlautbarungen, handelt es sich jedoch nicht um eine Krise. Schon die Verwendung des Begriffs Krise, darf getrost als Manipulationsversuch der maßgeblich beteiligten Protagonisten gesehen werden. Eine Krise, so denn der Begriff korrekt verwendet würde, suggeriert ein zeitlich begrenztes Phänomen, das zu überwinden wäre.

Manipulationsversuch

Auch wenn dies zu Beginn, gerne von der Politik selbst so geglaubt wurde, ist doch allen Beteiligten längst klar geworden, dass dieses Phänomen nicht überwindbar ist, also kein wirtschaftlicher Ausnahmezustand herrscht, sondern wir leidtragende Zeugen eines Normalzustands sind. Des Normalzustands des sterbenden globalen Kapitalsystems, dass an den Ansprüchen seiner eigenen Erfüllung zerbrach.

Wissentlich unwahr ist die wirtschaftliche und politische Suggestion, dass diese global auftretenden Wirtschaftseinbrüche ohne jeglichen Zusammenhang sein und überwindbar wären. Ebenso wie falsche Annahme, es gäbe einen Weg zurück in eine vergangene wirtschaftliche Glückseeligkeit. Längst ist offensichtlich, dass in Politik und Wirtschaft nur noch wenige an dieses Ziel glauben, alle aber dieses Ziel zur ultima ratio erklärt haben.

Jedes wirtschaftliche System, ist die gesellschaftliche Antwort auf tatsächliche politische und makroökonomische Umstände und es funktioniert nur solange, wie es diesen entspricht. So verhält es sich auch mit dem Kapitalismus, der systemisch bedingt solange expandierte, bis er seine natürliche Grenze erreichte und auch im Weiteren den systemischen Gesetzmäßigkeiten folgen muss und kollabiert.

Wachstumszwang

Die Grenze des Kapitalismus ist sein zinsbedingter Wachstumszwang, der an der Unmöglichkeit des Wachstums seines wichtigsten Treibstoffs, den Ressourcen scheitert. Im Grunde ist die Zwangsläufigkeit dieses Mechanismus allen Ökonomen klar. Der Untergang eines Wirtschaftsystems ist kein Endzeitszenario, sondern historisch belegte und immer wiederkehrende Normalität. Fatal für alle Leidtragenden ist nur, dass sie in einer Epoche leben, die sie zu Zeitzeugen macht.

Es wird Politik betrieben. Die Menschen verlieren, durch den Glauben an eine Krise und eine Rückkehr in die beschauliche Gemütlichkeit der achtziger Jahre, den Blick für die ihnen drohende Zukunft. Eine Zukunft die mit großer Wahrscheinlichkeit so dunkel werden wird, dass kein Politiker oder Wirtschaftsboss es wagt die Realität zu benennen. Es wäre sein, vielleicht nicht nur politischer und wirtschaftlicher, Freitod. Auch wenn sie schweigen, handeln sie wie Menschen denen in vollem Umfang bewusst ist, dass dieses Wirtschaftssystem nicht mehr zu retten ist.

So ist es konsequent, wenn sie versuchen möglichst viele Gewinne in möglichst kurzer Zeit abzuschöpfen, um in einem erwartenden neuen Wirtschaftssystem die bestmögliche Startposition zu erhalten. Die Politik einer nachhaltigen Wirtschaft wäre ein gegenteiliges Indiz. Nachhaltig bedeutet nicht, wie viele gerne glauben, die Verlängerung von Produktionszyklen. Nachhaltig bedeutet keine Expansion und damit null Wachstum. Der Kapitalismus hat uns lange begleitet. Er war zu keiner Zeit, das gerechteste denkbare Wirtschaftsystem und doch er agierte zu keiner Zeit so exzessiv fahrlässig, dass er sich seiner eigenen Grundlage beraubte.

Gewinn erwartet

Bis heute. Es ist eine Tatsache, dass der Kapitalismus, seit Beginn der Globalisierung auch in den letzten Winkel dieser Erde vorgedrungen ist, jedwedes Leben und jede Ressource zu einem Produktionsmittel machte und nach den Gesetzen des Kapitalismus auch irgendwann daraus Gewinn erwartet. Offensichtlich für jedermann, gesehen von wenigen. Diese Welt bietet keine neuen Ressourcen mehr. Sie aber sind der unverzichtbare Brennstoff des Zinsmotors, werden sie nicht kontinuierlich hinein gepumpt, entwertet der Zins alles. Auch der Finanzmarkt ist keine Lösung zum Erhalt des Wirtschaftsystems.

Der Handel mit Geld oder Wertpapieren beruht auf dem Glauben an den Wert des gehandelten Papiers und der erhöht sich, wenn ein höherer Sachwert hinter dem Papier steht. Seit nahezu einem Jahrzehnt sind die Gewinne auf den Finanzmärkten geradezu explodiert. Gleichzeitig konnten immer weniger neue Ressourcen als Sachwerte dem Wirtschaftssystem zugefügt werden. Die Folgen ist heute, das weniger als ein Prozent des Nennwertes von Wertpapieren als Sachwert dahinter steht und nur drei Prozent des Buchgeldes auch tatsächlich gedruckt wurde.

Ein gieriger alter kranker Mann

Tatsächliche Werte, also Sachwerte werden an den Börsen nicht mehr gehandelt und imaginäre Werte bescheren imaginäre Gewinne und imaginäres Geld, welches nicht mehr tatsächlichen Werten folgt, sondern der Politik, die die gigantische Luftblase nicht zerstört. Der Kapitalismus ist ein gieriger alter kranker Mann, den Krücke und Tropf kaum auf den Beinen halten. Das gesamte Ökosystem und die Menschheit selber, können es sich nicht leisten, seiner Gier nach immer mehr, noch mal zu folgen. Sein letztes Aufbäumen nun, offenbart das Ausmaß, der zerstörerischen Möglichkeiten eines kapitalistischen Gesellschaftskonzepts.

Nicht erst jetzt fordert es seine Opfer, sie werden nur offensichtlicher, da ihre Anzahl größer wird. Er hinterlässt eine Gesellschaft, die geprägt ist von dem Verlust an bürgerlichen Freiheitsrechten und der Bedrohung ihrer wirtschaftlichen Existenz. Ein Blick auf die sozialen und rechtlichen Zustände in Griechenland, Spanien oder Portugal, ist der düstere Ausblick in eine Zukunft, die voraussichtlich in wenigen Jahren, gesamteuropäische Realität sein wird.

Das Bild, sich im Zerfall befindlicher gesellschaftlicher Sozialsysteme und einer Wirtschaft die weit mehr Verlierer als Gewinner produziert, birgt genügend gesellschaftlichen Sprengstoff, um Forderungen nach einer anderen, einer neuen Politik laut werden zu lassen. So ist es nicht verwunderlich, das alle etablierten Parteien kein Interesse an der Verbreitung dieses Bildes haben.

Zur Unzeit

Zum einen weil es in einem Wahljahr, sicher geglaubte politische Mehrheiten gefährdet und zum anderen, weil alle Parteien an der Erreichung dieses Zustandes maßgeblich mitgewirkt haben und keine über ein alternatives Konzept verfügt. Aus Sicht der Politik kommt der Turnus gemäße, Armuts- und Wohlstandsbericht der Bundesregierung zur Unzeit. Zwar war es die Bundesregierung, die den Bericht schönte, aber auch alle anderen in den Machtstrukturen eingebundenen politischen Kräfte, orakeln aus diesem Bericht die Legitimation ihrer Wahlprogramme.

Die absoluten Zahlen des Berichts, werden als Beweis politischer Transparenz veröffentlicht, wohl wissend, dass sie zwar erschrecken, aber auch vom eigentlichen Inhalt ablenken. Das Desaster offenbart sich nicht in den absoluten Zahlen, sondern in die Tendenzen die die Vorgänge verdeutlichen. Die Hälfte des Volksvermögens konzentriert sich in den Händen von nur wenigen Prozent der Bevölkerung, mit steigender Tendenz.

Machtlos und Schönfärbereien

Dieser Trend ist historisch gesehen nicht neu und schon aus der Zeit der Industrialisierung und Kolonialisierung bekannt, der Zeit in dem dieses Wirtschaftsystem etabliert wurde und er steht in krassem Widerspruch zu einer freiheitlichen und sozialen Gesellschaftsordnung. Die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungsträger sind machtlos gegen die systemischen Gesetzmäßigkeiten des sterbenden Kapitalismus und versuchen ihren Hals, mit Schönfärbereien und inhaltslosen Beruhigungsfloskeln, aus der Schlinge der Verantwortung zu ziehen.

Während in den meisten Ländern der Welt, bereits die Sicherung der nackten Existenz der einzelnen Menschen und der Gesellschaften selbst, der einzig verbliebene Posten auf der politischen Agenda geworden ist, geht es in der westlichen Industriewelt noch um die finale Besitzstandsverteilung durch rücksichtslose Gewinnoptimierung und Verschleierung der tatsächlichen Zustände.

Statistiken werden bedeutungsgeschwängert und in ihrer Lesart so definiert, dass sie dem Volk zu erklären, alles was ihm widerfährt, sei nur eine zeitlich begrenzte Irritation. Zynismus scheint das letzte Mittel einer verzweifelten Politik zu sein und mit diesem Wesen erklärte der Vize-Kanzler und Wirtschaftsminister einer staunenden Bevölkerung, das es ihr doch nie besser ging als heute.

Arm und Reich

Der Armuts- und Wohlstandsbericht der Bundesregierung ist eine rein statistische Auswertung und spiegelt nicht den Zustand dieser Gesellschaft wieder. Statistisch gesehen ist das Durchschnittseinkommen nicht gesunken, wusste die Bundesregierung freudig zu berichten und verbarg. Es gab eine rasante Steigerung der Anzahl von Einkommensmillionären und jeder von diesen, kompensiert statistisch eintausend Arme, die er damit über die Armutsgrenze der Statistik schiebt. Ebenfalls ein statistischer Grundsatz in der Armutsberechnung ist.

Armut wird nicht durch die Steigerung von Einkommen beseitigt, sondern durch die Senkung des Durchschnittseinkommens und zwar soweit, das Armutseinkommen dem Durchschnittseinkommen nahe kommt. Arm ist schließlich statistisch nur der, der über weniger als 60% des Durchschnittseinkommens verfügt. Ein Widerspruch? Ja aber ein bewährter, mit einer zuverlässigen „das kann doch nicht sein“ Abwehrreaktion, auf die sich schon das Politbüro der ehemaligen DDR gerne und lange verlassen konnte.

Stolz verkündet die Bundesregierung im Weiteren, als Zeichen steigenden Wohlstands, dass noch nie so viele Menschen in Arbeit sein wie heute und offenbart damit Arbeit als Selbstzweck einer Wirtschaft, die sich nunmehr auf die Ausbeutung der Ressource Mensch konzentriert hat. Arbeit die Menschen nicht ernährt ist volkswirtschaftlich wertlos und eine humanistische Phrase.

Die Profiteure dieser Arbeit sind ausschließlich die Arbeitgeber die nicht existenzfähige Löhne zahlen und dadurch ihren Gewinn optimieren. Der Staat subventioniert diese Ausbeutung der Ressource Mensch durch aufstockende Leistungen, um statistische Erfolge und sprudelnde Einnahmen aus den Sozialkassen verbuchen zu können.

Bitter und Existenz bedrohend

Es gibt Armut in diesem Land. Genau so bitter und Existenz bedrohend, wie Armut überall auf dieser Welt. Es ist ein politischer Offenbarungseid, wenn gewählte Volksvertreter diese Armut bagatellisieren, in dem sie Vergleiche mit einem Leben in noch größerem Hunger, in noch größerer Not, irgendwo auf diesem Globus heran ziehen und den Armen ein Klagen auf hohem Niveau attestieren. Armut ist in den westlichen Industrienationen ausschließlich eine Folge, der willkürlichen und ungerechtfertigten Verteilung von Besitztümern.

Sie ist Folge des Kapitalismus, der Armut braucht um Reichtum zu generieren. Eine zwangsläufige Folge aus der Begrenzheit der Ressourcen, die nur einmal verteilt werden können. Es ist eine alt bekannte Weisheit, die besagt. Nur weil viele arm sind, können wenige reich sein. Armut ist in der westlichen Welt kein unvermeidbares Übel, sondern eine systemrelevante Bedingung des Kapitalismus. Armut und Reichtum steigen in sich bedingendem und gleichem Maße an.

Notwendig für die Aufrechterhaltung des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems wäre, ein ausgewogenes Verhältnis der Besitzstände und eine tatsächlich nachhaltige, also nicht expandierende Wirtschaft. Dies aber widerspricht schon grundsätzlich den Strukturen und Antrieben des Kapitalismus und ist in ihm nicht realisierbar. Der Kapitalismus konnte zu keinem Zeitpunkt die Armut beseitigen, er verschob sie nur oder hob ihre Bemessungsgröße. Er kann es nicht weil er die Armut der Menschen braucht. Nur sie liefert billige Arbeitskräfte und lässt Entmündigung ungestraft.

Börseboom

Das der Kapitalismus seinem Ende entgegen geht, kann jedem bewusst werden, der seine Sichtweise auf ihn, nicht durch Besitztümer oder ideologische Abwehrhaltungen vernebelt. Alle wirtschaftlichen Randdaten, sprechen eine deutliche Sprache, auch wenn vieles einen anderen Anschein hat. Ein solcher falscher Anschein ist der aktuelle Börseboom, der mit seinem DAX Index die maßgebliche Wohlstandsskala zu sein scheint. Es wird die Ansicht verbreitet, dass das unaufhörliche Steigen der Börsenindexe ein zuverlässiger Indikator für eine boomende Wirtschaft sei.

Die Börsianer agieren jedoch anders. Wer ihr handeln beobachtet, erkennt, das es sich bei dem Börsenboom um eine Kapitalflucht aus der realen Wirtschaft und dem Banksektor handelt, die keine Gewinne mehr versprechen und die Börse das frei werdende Kapital an sich zieht, als letzter Markt auf dem zumindest noch imaginäre Gewinne möglich sind.

Solche Verhaltenmuster der Anleger sind ein sicheres Indiz, für einen mangelnden Glauben an die Wirtschaft und prognostizieren einen bevorstehenden Crash, der dann nichts mehr ist, als ein weiterer kollektiver Abzug von Kapital, wenn auch dort keine Gewinnmöglichkeit mehr besteht. Als Folge wird das Kapital dann in statische und vermeintlich sichere Werte investiert, wie z.B. Gold oder Grundbesitz, entzieht sich damit dem Geldkreislauf und wird aus marktwirtschaftlicher Sicht zu totem Kapital.

Keine Ressoucen bedeutet keine Gewinne

Es kann den Motor des Kapitalismus, den Zins nicht mehr befriedigen und zwingt die Staaten neues Geld zu genieren in dem sie die Notenpressen anwerfen. Die Folge ist die Entwertung von Sachwerten und eine Inflation, der Kollaps des Wirtschaftssystems. Das geschah auch schon in der Vergangenheit und so bemühen sich die Wirtschaftsweisen dieses Szenario als systemisch bedingten Reset darzustellen, nach dem alles wieder, mit den gleichen alten Gesetzmäßigkeiten des Marktes beginnt.

Sie verschweigen jedoch eine Tatsache, die nach vergangenen Wirtschaftszusammenbrüchen die Grundbedingung für einen Neubeginn war. Neue, noch nicht vom System entwertete Ressourcen als Basis einer Wertstabilität und Rohstoff neuer Gewinne. Keine Ressoucen bedeutet keine Gewinne und ohne Gewinne keine Marktwirtschaft.

Der wirtschaftliche und sozialgesellschaftliche Verfall wird in diesem Wahljahr bestimmend sein. Die Menschen spüren bereits deutlich die ersten Auswirkungen des Zusammenbruchs des Wirtschaftsystems. Nur die wenigsten sind noch nicht von den Einschnitten betroffen. Die Zahl der Arbeitslosen stieg rückbereinigt auf 8 Millionen Menschen. 3,5 Millionen Hartz IV Empfänger, ca. 1,5 Millionen resignierte nicht mehr gemeldete Erwerbslose und 3 Millionen offiziell nicht Erwerbstätige also ALG I Empfänger.

Eine Zahl die wir auch schon mal in der Weimarer Republik der 1930er Jahre hatten und wie damals nutzen wir die gleichen marktwirtschaftlichen Instrumente. Wenn wir nun auch noch die gleichen Ergebnisse erhalten wie damals, dann wird die Bundeskanzlerin von einem Reichskanzler abgelöst werden.

Ungerechtigkeit

Alle politischen Parteien geben angestammte politische Positionen auf um möglichst glaubwürdig die soziale Gerechtigkeit vertreten zu können. Es entfaltet sich ein Gerechtigkeitswahlkampf, geschuldet dem Druck eines steigenden Ungerechtigkeitsempfindens. Die Ungerechtigkeit ist offenbar geworden und die Menschen beginnen ein Gefühl zu entwickeln, zu dem was mit ihnen geschieht. Die Welt der sicher geglaubten Werte, entwertet sich. Verunsicherung greift um sich und Gerechtigkeit verspricht Sicherheit.

Dieser Wahlkampf wird nicht um den Inhalt der Gerechtigkeit geführt werden, sondern um die Deutungshoheit, was überhaupt Gerechtigkeit sein kann und darf. Es wird weiterhin ein Wahlkampf der Wahlaufrufe werden. Möglichst viele Wähler sollen eine möglichst große Legitimation schaffen, für die unpopulären schmerzlichen Einschnitte, die nach der Wahl folgen werden. Eine neue Wahlkampfpartei wird für sich werben. Die aktiven Nichtwähler, aktiv ihre Überzeugung vertretend und nicht bereit noch irgend etwas in der Politik zu legitimieren.

Alle Fakten liegen offen und sind in der Informationsgesellschaft leicht verfügbar. Dennoch liegen keinerlei Konzepte für eine Zeit nach dem Kapitalismus vor. Die Politik kopiert der Kanzlerin wesenseigene Unverbindlichkeit, die Wirtschaft beschwört den Status Quo und die Medien verbreiten Endzeitszenarien.

Doch wer sich traut das Offensichtliche öffentlich auszusprechen, wird bestenfalls belächelt.

Ich empfehle mich in diesem Sinne

Heinz Sauren

Heinz Sauren studierte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster,
Rechtswissenschaften und Philosophie. Im weiteren bezeichnet er sich als Autodidakt.

Beruf: Schriftsteller
Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS)

Berufung: Buchautor, Kolumnist, Essayist, Aphoristiker und Freigeist

Politische Ausrichtung
Politische Einstellungen sollten keinen Parteien-, sondern einen begründeten Sachbezug haben, daher reicht mein politisches Spektrum von rechtsliberal bis linkskonservativ und in Fällen empfundener Ungerechtigkeit, darf es auch mal etwas Anarchie sein.

Religiöse Einstellung
Die etwaige Existenz oder Nichtexistenz eines Schöpfergottes ist nicht, von persönlichen Präferenzen, gesellschaftlichen Definitionen oder einem Glauben daran, abhängig.

Seine Lieblingszitate

” Die meisten Menschen haben einen Erkenntnisradius gleich null, das nennen sie dann ihren Standpunkt.” Albert Einstein

“Es gibt kein richtiges Leben im falschen.” Theodor Adorno

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16.03.2013 Heinrich Schmitz über das deutsche Schöffensystem.

GFDK - Heinrich Schmitz

RA Schmitz schreibt hier über das deutsche Schöffensystem, doch die Geschworenen z.B. einer amerikanischen Jury sind nichts anderes als deutsche Schöffen - Laien, die über Recht entscheiden, in einigen (amerikanischen) Fällen sogar über Leben und Tod...!


Und auch hier gilt, dass gebildetere Schichten, Homosexuelle, Minderheiten etc. seltener vertreten sind. Oftmals mit Absicht, wie Untersuchungen zeigen, denn (z.B. bei der Todesstrafe) Schwarze, hoch gebildete Menschen, Homosexuelle und andere Minderheiten neigen dazu, die TS eher weniger auszusprechen und so versuchen Staatanwaltschaften sie auszuschließen und Geschworene zu bekommen, die leichter beeinflussbar sind.


Ein US-Strafverteidiger sagte einmal zu mir: "Sicher muss ich ein guter Schauspieler sein! Wenn die Geschworenen am Ende meines Plädoyers nicht weinen, habe ich meinen Job nicht gut gemacht!"
(Susanne Cardona, Initiative gegen die Todesstrafe e.V.)    

Schöffen - Rechtsprechung im Namen des Volkes?

Stellen Sie sich vor, Sie müssten zu einer Operation ins Krankenhaus. Zur Voruntersuchung erscheinen neben dem Anästhesisten und dem Operateur zwei weitere Menschen an Ihrem Bett, ein Rentner und eine Hausfrau. Sie schauen etwas verwundert. Aber diese beiden beraten ganz ernsthaft mit dem Chirurgen über die Notwendigkeit und die Durchführung der Operation.

Plötzlich kommt es zu einerMeinungsverschiedenheit und einer Abstimmung. Die Hausfrau und der Rentner überstimmen den Facharzt, so dass dieser tun muss, was die Laien meinen.

Absurd? Sollte man meinen.

Aber genau dasselbe kann passieren, wenn Sie wegen einer Straftat angeklagt werden. Außer beim Einzelrichter am Amtsgericht sitzen Ihnen immer zwei Laien gegenüber, die über Ihre Schuld oder Unschuld, über Geld- oder Freiheitsstrafe , über Bewährung oder Knast mitentscheiden. Laien, die weder Jura studiert, noch sonst irgendetwas gelernt haben müssen.

Ehrenamtliche Richter, Schöffen.

Beim Schöffengericht sitzen zwei von ihnen gemeinsam mit einem Berufsrichter über Sie zu Gericht, d.h. die können den Fachmann locker überstimmen. Naja, werden Sie vielleicht sagen, ist ja nicht so schlimm - wenn das Urteil falsch sein sollte, kann ich doch in Berufung gehen.

Ist ja schließlich ein Rechtsstaat. Rechtsmittel und so.

Ja stimmt. Aber wundern Sie sich dann bitte nicht, wenn in der Berufungsinstanz plötzlich wieder - in einer sogenannten kleinen Strafkammer - ein Berufsrichter und zwei Schöffen vor Ihnen sitzen.

Klingt seltsam, ist aber so.

Nur bei der großen Strafkammer haben Sie immerhin mit 3 Berufsrichtern auf 2 Schöffen zu tun. Nur da sind die Fachleute in der Mehrheit.

Ansonsten Laienmehrheit.

Auf der Suche nach der Begründung für diesen auf den ersten Blick recht unheimlichen Umstand stößt man auf folgende Begründungen:

"Die Beteiligung ehrenamtlicher Richter hat in Deutschland eine lange Tradition und ist trotz mehrerer Änderungen von Strafprozessordnung und Gerichtsverfassungsgesetz nie ernsthaft in Frage gestellt worden. Für die Beteiligung von Schöffen in der Strafrechtspflege sprechen vor allem folgende Punkte:

- Repräsentative Teilnahme des Volkes an der Rechtsprechung.

- Erhaltung und Stärkung des Vertrauens der Bevölkerung in die Rechtsprechung durch Teilnahme hieran.

- Besserung der Rechtskenntnisse des Volkes und seines Verständnisses der Rechtsprechung und der dabei auftretenden Probleme. Denn wenn man einen Angeklagten unmittelbar vor sich hat und seine Tat unter Berücksichtigung der konkreten Situation und seiner gesamten Lebensgeschichte beurteilen muss, versteht man manchmal ein Urteil, dass in den Medien als Milde bewertet wird, viel besser.

- Einbringen des "gesunden Menschenverstandes" in die Urteilsfindung.

- Notwendigkeit für die Berufsrichter, die eigenen - juristisch geprägten - Wertungen in eine allgemein verständliche Form zu bringen.

- Erweiterung des Informationsstandes der Berufsrichter durch Sachkunde und Lebenserfahrung der Schöffen."

(Quelle:
http://www.lg-aachen.nrw.de/service/informationen/schoeffen/index.php)

Aha, lange Tradition, das haben wir schon immer so gemacht. Kein wirkliches Argument. Was haben wir nicht alles schon an Traditionen abgeschafft. Nur weil man etwas schon immer gemacht hat, muss man das ja nicht immer weiter so machen. Das hat sogar Papst Benedikt erkannt und hat seinen Rücktritt angekündigt, obwohl die Tradition ja verlangt hätte, dass er sich gefälligst bis zum Tode mit der Bürde seines Amtes rumquält.

Wir haben auch traditionell in der Kneipe geraucht, jetzt stehen wir vor der Kneipe in Regen und Schnee, wir Raucher. Traditionen bedeuten erst mal nur, dass man etwas lange macht, aber nicht dass er auch noch sinnvoll ist.

Und die anderen Argumente?

Repräsentative Teilnahme des Volkes an der Rechtsprechung, Erhaltung und Stärkung des Vertrauens der Bevölkerung in die Rechtsprechung durch Teilnahme hieran. Da habe ich schon ganz große Zweifel. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Qualität der Strafjustiz scheint nicht das größte zu sein. Dafür dass das nicht so ist sorgt ja schon die BILD regelmäßig. Stichwort Kuscheljustiz.

Und dass die Schöffen das Volk repräsentieren, ist auch nicht gewährleistet.

Schon die Auswahl der Schöffen ist nicht gerade ein Musterbeispiel für eine demokratische Wahl.

Die Anzahl der Schöffen wird zunächst durch den Präsidenten des Landgerichts bestimmt. Aufgrund dieser Vorgabe werden von den Gemeinden Vorschlagslisten erstellt, die doppelt so viele Vorschläge enthalten müssen, wie Schöffen gebraucht werden. Auf diese Vorschlagslisten kommen erst mal die Bürger, die sich ganz bewusst für das Schöffenamt bei der Gemeinde bewerben.

Warum sie das tun, bleibt dabei offen. Es gab zum Beispiel einen Aufruf der NPD sich auf die Listen setzen zu lassen, um auf diese Weise die Rechtsprechung zu beeinflussen. Es gibt aber auch Leute, die sonst keine richtige Beschäftigung (mehr) haben. Und natürlich gibt es auch engagierte Bürger, die etwas für ihr Land tun wollen.

Aus den Vorschlagslisten wählt ein Wahlausschuss die Schöffen. Dieser Ausschuss besteht aus einem Richter des Amtsgerichts, einem sogenannten Verwaltungsbeamten sowie sieben Vertrauensleuten.

Diese Vertrauensleute werden von den Vertretungen der Kreise gewählt. Der Ausschuss wählt die Schöffen für das Schöffengericht des Amtsgerichts und für die Strafkammern des Landgerichts. Bei der Wahl soll darauf geachtet werden, dass alle Gruppen der Bevölkerung nach Geschlecht, Alter, Beruf und sozialer Stellung angemessen berücksichtigt werden.

Ob das so richtig klappt darf ebenfalls bezweifelt werden. Während immerhin die Verteilung auf Männer und Frauen eingermaßen zu funktionieren scheint, sind jedenfalls nach meiner persönlichen Beobachtung ziemlich wenige Selbständige, Arbeitnehmer, Menschen mit Migrationshintergrund, Schwarze, Schwule, Lesben und Personen unter 40 Jahren unter den robenlosen Richtern zu finden.

Die Verteilung von Alter und Beruf kann seit einigen Jahren eh nicht mehr kontrolliert werden, weil die Statistik im Jahre 1998 einfach eingestellt wurde.

Die Besserung der Rechtskenntnisse des Volkes und seines Verständnisses der Rechtsprechung können keine wirkliche Begründung für das Schöffenwesen darstellen. Da wäre das von mir seit Jahren geforderte Schulfach "Rechtskunde" über die bisherigen popeligen Arbeitsgemeinschaften hinaus wesentlich effektiver.

Aber diese intensive Besserung der Rechtskenntnisse der Bevölkerung will der Staat offenbar gar nicht so richtig haben. Die rechtskundigen Bürger könnten ja auf die Idee kommen, ihre Rechtskenntnisse dann auch in die Tat umzusetzen.

Aber Fortbildung als Rechtfertigung für die Beteiligung von Laien an der tatsächlichen Rechtsprechung - also sozusagen learning by doing - , dass würde auch als Argument für die Laienoperateure im Krankenhaus nicht greifen, auch wenn diese dann mehr Verständnis für ärztliche Kunstfehler entwickeln würden.

Das beliebte Argument "Einbringen des "gesunden Menschenverstandes" in die Urteilsfindung" ist mir aus zwei Gründen suspekt. Zum einen unterstellt es den Volljuristen ohne nachvollziehbaren Grund eine "kranken" Menschenverstand, zum anderen bewegt sich der "gesunde Menschenverstand" manchmal verdammt nah am "gesunden Volksempfinden", das sich in der Vergangenheit häufig als ganz ungesund erwiesen hat.

Man erinnere sich zum Beispiel an den Emden-Mob und ähnliche Aufwallungen der Volksseele.

Auch das Argument der durch Schöffen erzeugten Notwendigkeit für die Berufsrichter, die eigenen - juristisch geprägten -- Wertungen in eine allgemein verständliche Form zu bringen, hat offenbar in der Vergangenheit wenig Gewinn gebracht.

Dass Urteilsbegründungen von Schöffen- oder Berufungsgerichten allgemeinverständlicher wären als die des Einzelrichters, ist mir jedenfalls noch nie aufgefallen. Es gibt Richter, die sich verständlich und solche, die sich unverständlich ausdrücken. Daran ändert auch ein Schöffe nichts.

Auch das letzte Argument für die Schöffen, dass sie einer Erweiterung des Informationsstandes der Berufsrichter durch Sachkunde und Lebenserfahrung dienen, ist nicht überzeugend. Benötigt der Richter mangels eigener Sachkunde jemanden, der ihn bezüglich eines Themas schlau macht, dann kann und sollte er einen Sachverständigen befragen.

Woher soll der Richter denn wissen, ob das Wissen, dass der Schöffe ihm vermitteln will, auf dem neuesten Stand ist ? Was soll das bringen, wenn der Schöffe seine "Lebenserfahrung" einbringt ?

Nicht, dass ich das teilweise bewundernswerte Engagement von manchen Schöffen nicht zu würdigen wüßte. Es gibt sogar Schöffen, die in der Hauptverhandlung den Mut aufbringen, eigene Fragen zu stellen. Manchmal allerdings auch Fragen, mit denen sie sich wegen Befangenheit gleich aus dem Verfahren schießen, wie zum Beispiel,

"Warum gestehen Sie nicht endlich, wir wissen doch, dass sie schuldig sind ?". Die Schöffen können nichts dafür, sie sind ja Laien.

Aber nochmal, möchten Sie von einem Laien operiert werden ?

von RA Heinrich Schmitz
(Herr Schmitz ist nicht Mitglied der Initiative gegen die Todesstrafe e.V.)

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15.03.2013 Aus Kritikern werden Tastatur-Künstler

GFDK - Christopher Lesko

Kommenden Montag geht die zweite Folge von “Circus Halligalli“ über den Schirm. Der Start bescherte ProSieben vor einer knappen Woche neben guten Quoten die intensive Aufmerksamkeit der TV-Kritik. Einige Kritiker fanden deutliche Worte und ultimative Beschreibungen. An einigen Stellen schien es, als sei manchen Kritikern unbemerkt etwas verloren gegangen: Die Bereitschaft, Formaten auf längeren Sendestrecken Zeit für Wachstum und Entwicklung zu geben. Zeit für ein paar Grundsatzgedanken.

Dass Formate polarisieren freut TV-Verantwortliche weit mehr, als es durchgängig positive Kritiken je verwirklichen könnten. Schließlich entstehen Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Identifikation zunächst unabhängig von ausschließlich angenehmen Gefühlen. Ob Zuschauer einschalten, weil sie auf hohem Niveau unterhalten werden, ob sie dabei blieben, weil ein Format  Ziele für Enttäuschung oder Ärger bietet, ob man gar in jener Art zuschaut, in welcher Unfallopfer auf Autobahnen betrachtet werden, ist der Quote egal solange Aufmerksamkeit gesichert ist.

Über eine sehr gute Quote hinaus bescherte der Start des ProSieben-Formates “Circus Halligalli“ Protagonisten, Machern und Verantwortlichen schnell die große Aufmerksamkeit der TV-Kritik.

Dass einige TV-Kritiker nach nur einer Sendung innerhalb eines sehr breiten Spektrums von Einschätzungen derart ultimativ urteilten, trägt paradoxe Züge. Mögliche Ursachen dafür, so scheint es, haben mit dem Format selbst nur symptomatisch zu tun: So schreiben Journalisten und Kritiker nicht im luftleeren Raum, sondern sind einer Reihe grundsätzlicher Aspekte und Phänomene ausgesetzt, die Tempo, Richtung und Qualität ihrer Kritiken mehr oder weniger beeinflussen. Nach einigen Tagen und vor der zweiten Folge der Show wollen wir jenen grundsätzlichen Aspekten einige Zeilen widmen.

Der Quoten-Irrtum

Der Startquote vieler Formate wird häufig paradoxerweise eine besondere Bedeutung zugemessen. Grob vereinfacht gesagt, misst sie die Qualität von Marketing, Promo oder Pressearbeit vor Formatstart. Natürlich repräsentieren erste Quoten auch die grundsätzliche Zuschauerbereitschaft zur Aufmerksamkeit für Inhalt und Protagonisten. Über Qualität des Formates oder gar Chancen auf den grundsätzlichen Erfolg einer Formatstrecke sagt sie annähernd gar nichts.

Dies gilt auch für “Circus Halligalli“. Die Rückkehr von Harald Schmidt zu SAT.1 bot gute Anfangs-Quoten, die im weiteren Verlauf der Sendestrecke völlig zerbröselten, und Schmidt bildet nur ein Beispiel dafür in einer längeren Reihe ähnlicher Beispiele.  TV - Kritiker mit Augenmaß vermeiden es, in Texten die Startquote in Verbindung mit grundsätzlich qualitativen Aussagen zum Format zu setzen.

Nicht nur in einigen Kritiken des “Circus Halligalli“ - Starts  werden allerdings Anfangsquoten immer wieder in Bezug zu einer weitreichenden, inhaltlichen Bewertung von TV-Produkten gesetzt. Die Wahrheit bleibt: Ob sich Formate erfolgreich oder dürftig entwickeln, sieht man kaum an der Quote der ersten Sendung.

Schreiben in Spannungsfeldern

Grundsätzlich handeln TV-Kritiker innerhalb dreier, wesentlicher Spannungsfelder:

Das erste Spannungsfeld beschreibt eine Medienkultur journalistischer Herkunftsorganisationen, die in Fragen ihrer Geschwindigkeit und in Vielzahl und Breite ihrer Kanäle in den letzten Jahren wesentliche Veränderungen erfahren hat: Boten früher TV, Print-Medien und Radio Kritikern sehr fokussierte Kanäle für ihre Bewertungen und Kommentare, stehen heute Lesern durch eine Fülle von Online-Medien und soziale Netzwerken unterschiedlichster Prägung Bewertungen von TV-Produkten annähernd zeitnah in endloser Breite zur Verfügung.

Für viele Journalisten alter Schule und klassische TV-Kritiker bedeutet dies zunächst ungewohnten Wettbewerb mit anderen, die in neuen Medien, in Blogs, usw. durch Veröffentlichungen Aufmerksamkeit und Leser binden.

Die Veränderung bedeutet auch, dass Tempo per se einen neuen Werte setzt und somit eine wichtige Rolle spielt: Viele kommentieren auf allen Kanälen vieles rasend schnell. Nicht schnell dabei zu sein nimmt Sichtbarkeit. Dieser Abhängigkeit unterliegen auch alle Online-Präsenzen großer, orthodoxer Medien.

Nun wäre der Königsweg, nicht nur schnell sondern schnell und gut zu kommentieren. An vielen beobachtbaren Stellen jedoch hat der Wert der Geschwindigkeit nicht zufällig das Bemühen um professionellen Tiefgang  überholt: Zugespitzt gesagt, generiert Tempo grundsätzlich mehr Klicks als Qualität. Zumindest generieren Tempo und hohe Frequenz schneller die erforderlichen Visits. Die nun regulieren nicht nur Reichweite und Bedeutung des jeweiligen Mediums und seiner Autoren, sondern auch Berechnungsgrundlage und Anzahl möglicher Werbekunden. Das zählt.

Es reicht also heute nicht mehr, von Lesern beachtet, geschätzt oder gar geliebt zu werden: Google muss Autoren und ihre Online Medien ebenso lieben. Und manches Mal frisst Tempo Qualität.

Kritiker, Journalisten und Autoren bewegen sich also bereits innerhalb des ersten  Spannungsfeldes in einem Gemisch unterschiedlicher Abhängigkeiten. Sie erleichtern es nicht unbedingt, mit Augenmaß und kritischer Distanz TV-Produkte eines Feldes zu bewerten, dass ohnehin mit der Produktion von Träumen, Unterhaltung und Phantasie weniger von nüchternen Sachaspekten geprägt ist als andere Branchen und somit mehr Anfälligkeit für Extreme bietet.

Kritiker

Ein zweites Spannungsfeld sieht den Kritiker selbst und betrachtet das Phänomen wachsender Angleichung zum TV-Feld,  dem er professionelle Aufmerksamkeit widmet. Vor vielen Jahren ergaben Untersuchungen verschiedener Arbeitskulturen und Branchen: Menschen neigen dazu, sich Besonderheiten ihres beruflichen Umfeldes sukzessive anzugleichen und  - ihnen vielleicht ursprünglich fremde - Charakteristika zu übernehmen. Mitarbeiter von Justizvollzugsanstalten etwa wiesen statistisch eine besonders hohe Kriminalität auf.

Das Phänomen der Angleichung birgt für TV-Kritiker die prinzipielle Gefahr eines zunehmenden Defizites an erwachsener Distanz und auch an der Fähigkeit zur Selbstkritik: Wer sich über viele Jahre mit Künstlern und TV-Größen auseinandersetzt und darüber hinaus noch passabel schreiben kann, ist grundsätzlich einerseits davon bedroht, selbst zum “Star“ zu werden. Und: Mit der professionellen, kritischen Betrachtung anderer geht nicht selten der kritischen Blick auf sich selbst verloren.

Abzuheben, dem Wachsen eigener, medialer Bedeutung kein Gewicht auf der bodenständigen, anderen Seite der inneren Waage entgegen zu setzen, führt potentiell zu Kritikern, deren Selbstwahrnehmung sich kaum noch von jener unterscheidet, die sie als TV-Größen betrachten: Aus Kritikern werden Tastatur-Künstler, denen schleichend Bodenhaftung verloren geht. Mehr und mehr bilden  Fans und Bewunderer den großen Teil ihres Umfeldes. Das Motiv des Schreibens aus Gründen eigener Sichtbarkeit gewinnt zunehmend Raum.

Genauso, wie ein TV- Format den Erwartungen seiner Zuschauer ausgesetzt ist, unterliegen TV-Kritiker den Erwartungen ihrer Leser: Schnell sein zu müssen, sich selbst schnell zeigen zu müssen, fördert statt erwachsener Kritik mit nötiger Distanz immer wieder undifferenzierte Extreme. In Verbindung mit dem oben erwähnten Wert der Geschwindigkeit keine hervorragende Ausgangssituation für profunde, fachlich fundierte und Formaten gegenüber faire Kritiken.

Abhängigkeit und Nähe

Natürlich sind Fernsehmacher abhängig davon, von Medien und Kritikern wahrgenommen und bewertet zu werden. Diese Abhängigkeit jedoch existiert in beide Richtungen: Auch Journalisten und Kritiker sind abhängig von gesunder, gelingender Nähe zu TV – Verantwortlichen, Protagonisten oder Künstlern: Sie reguliert in Teilen Zugänge, Existenz und Erfolg. 

Als Meinungsmacher mit persönlicher Macht und dem Einfluss des Mediums, für welches man schreibt, sensibel und reflektiert umzugehen, ist generell keine leichte Aufgabe. Der Umgang mit Abhängigkeit ist es auch nicht: Zwischen zwei Extremen, die auf der einen Seite des Spektrums Journalisten sehen mögen, die ohne wirkliche Bindung und Nähe aus Elfenbeintürmen auf die TV - Welt herab diagnostizieren und auf der anderen Seite des Spektrums jene finden, die sich durch kritikloses Anwieseln Zugänge erhalten wollen, ist jede Menge Platz für Gestaltung. Nicht jedem, so scheint es,  gelingt der Umgang mit Gegenabhängigkeiten dieser Ebene souverän, selbstbewusst und mit einem guten Gefühl für saubere Distanz.

Kritiker-Texte entstehen also auf dem Boden eines Raumes, der permanent von zumindest drei grundsätzlichen Spannungsfeldern beeinflusst wird. Wie sehr oder wie wenig diese häufig unreflektierten Phänomene für den Einzelnen eine Rolle spielen, hängt von seiner Persönlichkeit und der aktuellen Situation ab. Niemand ist dem schutzlos ausgeliefert. Und niemand kann generell die Bedeutung dieser Aspekte ignorieren.

Mal was vom Pferd

Um einen alten Satz zu bemühen: Natürlich ist es nicht so, dass ein guter Reiter vorher Pferd gewesen sein muss, ein guter Fußballtrainer vorher Spieler oder ein guter TV-Kritiker vorher Künstler oder Produzent.

Manchmal jedoch möchte man Journalisten und Kritikern wünschen, sie verstünden mehr – und anderes - vom Fernsehen: mehr von Leben und Atmosphäre in Produktionen. Mehr von Druck und Aufnahme-Stress. Mehr davon, wie wenig Fernsehen ein nine-to-five-job ist. Man wünschte, sie verstünden ein wenig mehr von inneren Organisations-Wirklichkeiten, mehr davon, wie klein und zwischenmenschlich schwierig einige der ganz Großen der Mattscheibe wirklich sein mögen. Und nicht zuletzt ein wenig mehr von den Sorgen der Verantwortlichen oder der Freude der Teams, wenn ein Format nach harter Arbeit richtig gut werden durfte.

Jeder vernünftige Mensch weiß, dass eine saubere Bewertung des Formates “Circus Halligalli“ nie und nimmer nach einer Sendung erfolgen kann. Jedes Format mit längerer Sendestrecke braucht seine Zeit für Wachstum, nötige Veränderungen und Justierungen. Ob und mit welchen Modifikationen die große Plattform von ProSieben ein Format erfolgreich tragen kann, dessen Kern in ganz anderen Kontexten lebendig wurde, wird sich im Laufe der Zeit entscheiden.

Ob Joko und Klaas als Hoffnungsträger der Unterhaltung ihre Räume nutzen können, ob sie sich die nötige Zeit für ihr Erwachsen-Werden nehmen können oder gar durch den schnellen Erfolg der letzten Jahre professioneller Deformation und dem Verlust von Bodenhaftung nachgeben, wird man ebenso abwarten müssen.
Wie jedes Format hat “Circus Halligalli“ seine Chance verdient. Und mit dieser Chance Kritiker, die sich selbst und den Machern des Produktes ein wenig mehr Zeit lassen. Manchmal wäre es mutiger, angenehmer und fairer, wenn nicht so schnell, so laut und so extrem geurteilt würde.

Die Liebe von Google ist nicht alles. Hohes Tempo und eigene Sichtbarkeit der Kritiker sind es auch nicht.

Mehr über den Autor: www.leadership-academy.de

Ersterscheinung: meedia.de

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14.03.2013 eine moralische Instanz

GFDK - Heinz Sauren

Ein Papst dessen Namensgebung ein Versprechen ist. Egal wie anachronistisch das Konklave auch anmutete, durch die Wahl von Franziskus bewies es Zeitgeist. Sein Name steht für freiwillige Bescheidenheit, sein Einsatz gilt den Armen und Verlierern der Marktwirtschaft. Sein Namensgeber gilt als erster Tierschützer und Verfechter von natürlichen Rechten jedes Lebens und jedes dieser Leben strebt nach Glück, Liebe und danach sein Leben leben zu dürfen. Ehrenvolle Ziele.


Die von vielen nicht mehr ernst genommene verstaubte katholische Kirche, hat einen Papst gewählt und der hat als erste Handlung einen Statement gegeben. In Europa wird es kaum gehört werden, doch für 1,2 Milliarden Menschen ist dieser Mann eine moralische Instanz. Es wäre ignorant zu glauben, dass das was er tut und sagt, kein Gewicht mehr habe. Ich zumindest höre ihm genau zu und ich bin nach der herkömmlichen Einteilung der Religionszugehörigkeiten, Agnostiker.

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12.03.2013 Erst mal schießen, töten und dann weitersehen

GFDK - Heinrich Schmitz

Erst Matscheier dann Maschmeyer. Der Sonntagabend in der ARD war anstrengend.

Der Tatort ist kein Bildungsfernsehen, keine Darstellung realer Polizeiarbeit und soll in erster Linie der Unterhaltung dienen. Soweit so gut.

Gekracht hat es ja reichlich und "rumgeblutet" auch beim neuen Tatort aus dem neuen, ganz finsteren Hamburg. Aber reicht Geballer und literweise Blut auch schon für gute Unterhaltung ? Ist Gewalt als solche unterhaltend ? Und transportiert diese Art von Unterhaltung keine bestimmte Einstellung ? Bildet sie nicht auch ?

Na klar tut sie das. Und nicht zu knapp, mehr als jedes offizielle Bildungsprogramm. Und hier fängt die Sache gewaltig an zu stinken.

Tschiller ist nicht der Denker unter den Tatortkommissaren. Geschenkt. Die Anzahl der Philosophen unter realen Ermittlern ist auch begrenzt. Dass er nuschelt. Auch geschenkt. Auch echte Polizisten sind keine ausgebildeten Sprecher, die man immer verstehen muss. Dass er selten jemand festnimmt und deshalb auch niemanden über seine Rechte belehrt. Schon spannender.

Tschiller ist ein Mann der Tat. Man kann auch sagen, der blinden Tat. Nur ein toter Menschenhändler ist ein guter Menschenhändler, scheint das Motto zu sein. Erst mal schießen, töten und dann weitersehen. Erst dachte ich ja der Name Tschiller sei der jugendlichen Neigung zum Chillen geschuldet, er kann aber auch von Killer kommen, mal so dahergenuschelt.

War doch Notwehr. Aber sicher. Auf die Idee sind andere auch schon gekommen. Man provoziert - völlig hirnlos - gefährliche Situationen, in denen man dann recht sicher angegriffen wird und dann erschießt man mal eben drei Menschen, gefährdet das Leben von Zeugen und das des Kollegen. Warum nicht, dient doch nur der Unterhaltung. Ist doch nur im Film, nicht in Echt, Mann.

Wenn's denn nur mal so wäre. Tatsächlich wird dem insbesondere jugendlichen Publikum, dass man mit dieser RTL2-würdigen Raserei anlocken will, eine Problemlösungsstrategie nahe gelegt, die in der nächsten Talkshow mit besorgtem Blick diskutiert wird. Haben wir zu viel Gewalt ? Wird die Jugend immer brutaler ? Wie kommt das denn ? Glücklicherweise stimmt das nicht mal, aber es ist halt eine schönes Talkshowthema. Und dann dieser neue Ermittler, der mit den Eiern. Gewalt und nichts als Gewalt.

Dass es auch im realen Alltag gelegentlich zu Tötungen durch polizeilichen Waffeneinsatz kommt, soll nicht verschwiegen werden. Dass sind durchschnittlich so um die 8 Tote in Deutschland - pro Jahr, nicht pro 90 Minuten. Keine dieser Tötungen ist allerdings durch einen durchgeknallten Rambobullen leichtfertig verursacht worden, sondern regelmäßig durch Beamte, die hinterher gewaltig daran zu knabbern haben, dass sie einen Menschen getötet haben. Wer gerne tötet fliegt raus bzw. kommt gar nicht durch die Stresstests.

Was dieser Tatortkommissar transportiert sind vielleicht amerikanische Werte. Waffen sind cool, Töten ist cool, Regeln sind zum brechen da juppheidi und juppheida. Und ganz ohne künstlerische Überhöhung wie z.B. bei Tarantino, ganz ohne Ironie, was seine Handlungsweise angeht. Ein paar witzige Sprüche. Lukas Podolski würde sagen, Mundabwischen.

Gesetze und Dienstvorschriften sind nur was für Weicheier und Gutmenschen ? Das unkontrollierte Eindringen in Datennetze ist völlig okay, wenn's der Sache dient ? Vorgesetzte darf man belügen ? Zeugen gefährden ? No risk no fun ?

Wer solche Straftaten begeht hat jedes Recht in dieser Gesellschaft verloren. Den letzten Satz hatte der Hauptdarsteller erst vor zwei Jahren allen Ernstes in der Talkshow von Markus Lanz im Hinblick auf Sexualstraftäter zum Besten gegeben und dafür nicht nur den Applaus der rechten Szene und NPD-nahen Gruppen wie "Todesstrafe für Kinderschänder" eingesammelt. Dieses grenzwertige Gedankengut wird nun in Form eines Unterhaltungsformats als Krimi klammheimlich unter die Zuschauer gebracht ? Mit meinen Gebühren ? Ob das tatsächlich im öffentlich-rechtlichen TV passieren muss, wage ich zu bezweifeln. Wozu mache ich eigentlich Rechtskundeunterricht ?

Wenn Qualitätsmerkmal für die ARD nur die Einschaltquote sein soll, dann kann man ja auch öffentliche Hinrichtungen aus dem Iran oder China live übertragen. Toter Verbrecher, guter Verbrecher - nein danke.

Vielleicht sollte Tschiller ins Privatfernsehen abwandern und sich von den nationalen Waffenproduzenten sponsern lassen. Bei Apple scheint's ja auch geklappt zu haben.

Wenn ich es krachen und bluten sehen will, schaue ich mir lieber gleich amerikanische Produktionen an. Da versucht wenigstens keiner Eier zu kochen.

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12.03.2013 Til Schweiger als Nick Tschiller

GFDK - Marie Allnoch

Ja, wir hatten es alle kommen sehen. Nein, deswegen haben wir ihn alle natürlich auch nicht geschaut.

Ich schon. Töricht. Trotz eindeutiger Warnungen von verschiedensten Seiten, so demonstriert beispielsweise die Popkultur ihre Einstellung zum neuen Hamburger Tatort mit einem „Til-Schweiger-Bullshit Bingo“, habe ich versucht Objektivität zu wahren und mich fernab aller Voreingenommenheit wirklich auf den Film einzulassen. Zu Anfang klappt das auch ganz gut: Anstelle des keinohrigen Frauenlieblings präsentiert sich Schweiger als unbeliebter Neuankömmling.

Gleichzeitig mit dem Zuspruch von Wotan Wilke-Möhrings Figur verspielt er sich auch meine versuchte Sympathie. Erfrischend. Auch das nuschelnde Wortspiel „Nick Tschiller“ lässt auf eine gewisse Selbstreflexion schließen.

Mit dem Auftritt von Schweigers Tochter Luna kehr die Erinnerung an dunkle Zeiten und Kuschelrock-Soundtracks jedoch schnell zurück. Es folgen etliche unnötige Schießereien, episch anmutende Szenen des Überlebenskampf auf dem Dach der Kulturruine Elbphilharmonie, die als Fluchtort für osteuropäische Zwangsprostituierte endlich einen Zweck gefundenen zu haben scheint, und deplatzierte Flirts mit Rächern des Rechts gleichermaßen wie mit Handlangern des ach so guten alten Freunds, der die Menschenhändler ja nur ein bisschen berät.

Natürlich wird am Ende alles gut. Das ist in der warm eingefärbten Zeitlupe die Schweiger als Retter der Frauenwelt zeigt, gefolgt von einer Gruppe klischeehaft gekleideter Zwangsprostituierter aus den Trümmern des Schlachtfelds schreitend, nicht zu übersehen. Und natürlich hat Tschiller, anfangs wild um sich schießend, dazugelernt und schaltet seinen Endgegner mit einem eleganten Schlag aus.

Die überdramatische Handlung dieses Tatorts,  so denn dieser Begriff überhaupt einer Schweigershow würdig ist, lässt mich neugierig auf die nächste Ausgabe werden. An Fokussierung auf den Schweigerclan und Hollywood-Action scheint sie nur noch übertroffen werden zu können, wenn Papa Til, Entschuldigung, Nick, im Nasenpiercing seiner Tochter einen mexikanischen (woher auch sonst?) Peilsender entdeckt.

Die Anfängliche Hoffnung auf Selbstironie und damit die Chance auf einen überzeugenden Schweiger-Tatort hat sich leider nicht bestätigt. Mein Schweiger-Bullshit-Bingo bleibt enttäuschend leer, von 25 großartigen Begriffen wie „Mächenhndlä“ und „tsursaite, isch tschieße!“ bleibt mir leider nur „nsere Bziehng macht kn tsinn“. Wenn schon mit Klischees jongliert wird, dann bitte richtig.

Marie Allnoch ist Redakteurin der Gesellschaft Freunde der Künste und zuständig für Literatur, Kino und TV-Tipp

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11.03.2013 virtuelle Revolution scheiterten

GFDK - Heinz Sauren

Aufgrund der Missstände die durch die Diktatur des Kapitals und nichts anderes ist der Kapitalismus, die Freiheit der Menschen, ihre Gesundheit und das gesamte ökologische System der Erde bedrohen und die Zukunft des Einzelnen, wie auch der gesamten Menschheit in Frage stellen, wäre eine Revolution gegen das zwanghafte Bestreben der profitierenden Eliten, diesen vernichtenden Status Quo aufrecht zu erhalten, im Grunde nicht mehr als ein zwingende logische Konsequenz.

Dennoch ist gerade in Europa der Beginn einer solchen unwahrscheinlich, da nicht genügend Menschen für einen solchen die eigene Existenz sichernden Schritt mobilisiert werden können.

Politische Revolutionen, wie die französische, fordern politische Opfer, sowie wirtschaftliche Revolutionen, wie die deutsche Wiedervereinigung, wirtschaftliche Opfer fordern. Die Opfer einer politischen Revolution sind die geistigen Träger des überwundenen politischen Systems. Sie werden mit physischer und psychischer Gewalt zum Schweigen gebracht um ihre Ideologie zum Schweigen zu bringen. Die Opfer einer wirtschaftlichen Revolution sind die Besitzstände der Menschen, die durch Umverteilung oder Enteignung neu geordnet werden.

Für das persönliche Empfinden eines Opfers ist es nebensächlich, aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen Opfer geworden zu sein, da ihre Opferrolle immer den Verlust ihrer Identität und ihres Lebenswerks, mitunter auch ihrer wirtschaftlichen oder physischen Existenzgrundlage bedeutet. Dieser Verlust für einen bestimmten Anteil einer Bevölkerung, ist zwangsläufiger Bestandteil jeder tatsächlichen und grundlegenden Veränderung und das Wissen darum, der tatsächliche Grund aus dem Revolutionen so selten sind.

Tatsächliche Missstände und eine mehrheitliche Empfindung dieser, sind der Grund einer Revolution, aber ihr Auslöser ist die Überwindung einer etablierten Moral. Das revolutionäre Potential einer Bevölkerung ergibt sich aus einer Güterabwägung moralischer Prämissen. Ein gesellschaftliches Moralempfinden ist ein Konsens aller Teilnehmer, also auch der Schwachen innerhalb dieser und deren prägende moralische Position der Empathie.

Eine Empathie die sich nicht auf einzelne Gegebenheiten beschränkt, sondern grundlegend vorab jeder Handlung, als Negativabgrenzung wirkt. Als solche ist sie nicht auf das Handeln selbst gerichtet, sondern auf die Vermeidung von Handlungen, die einem aus ihr begründeten Gerechtigkeitsempfinden widersprechen. Sie beinhaltet, die bewusste und gewollte Schädigung andere Menschen zu verhindern.

Erst die übergreifende Erkenntnis einer gesellschaftlichen Mehrheit, dass diese moralische Grundlage bereits von einer bestimmten Gesellschaftsgruppe verletzt wurde, hebt die absolute Gültigkeit des Empathiegebots auf und erzwingt Handlungen zur Widerherstellung dessen, was als Gerechtigkeit empfunden wird. Es ist der Auslöser der revolutionären Bereitschaft innerhalb einer Bevölkerung.

Nicht der fehlende Grund, von denen es viele gibt, verhindert die tatsächliche Veränderung die immer revolutionär sein müsste, sondern die Ermangelung eines gesellschaftsübergreifenden Ungerechtigkeitsempfindens, eines Auslösers. Dieser Auslöser fehlt immer dann, wenn die Unabänderlichkeit eines Sachzwangs und nicht das moralische Fehlverhalten, eine Situation begründet.

Aus diesem Grund werden Missstände von denen, die eine Revolution zu befürchten hätten, immer mit unumgänglicher Notwendigkeit begründet und damit ein übergeordneter Zwang bescheinigt, der die moralische Verfehlung gegen das gesellschaftliche Empathiegebot ihrer selbst legitimiert.

In einer Informationsgesellschaft sind die Missstände, die eine Revolution rechtfertigen würden offensichtlicher, als in allen anderen Gesellschaftsformen, da eine breite Mehrheit das Wissen um sie erlangen kann. Diese Informationsvielfalt ist aber auch der Grund, der Sachzwänge überproportional stark wertet und damit moralische Verletzungen des Empathiegebots in ihrer Gewichtung mindert.

Dies ist zum einen der Menge der verfügbaren Informationen geschuldet, die ein vermeintliches quantitatives Übergewicht der Sachzwänge begründen, aber auch der Informationswege selbst, die zwar eine unbegrenzte Datenflut ermöglichen, jedoch den Auslöser einer Revolutionsbereitschaft, das Ungerechtigkeitsempfinden als Emotion nur stark abgeschwächt transportieren.

Ein etwaig vorhandenes Ungerechtigkeitsempfinden wird durch die quantitativ unüberschaubare und damit nicht widerlegbare Menge an postulierten Sachzwängen verwässert und führt nicht zu revolutionärer Bereitschaft sondern zu empfundener Orientierungslosigkeit und als Folge daraus zu Lethargie.

Jeder Versuch die Orientierungslosigkeit durch neue oder weitere Informationen aufzulösen, führt ausschließlich dazu diese zu verstärken. Im Weiteren erlaubt die mediale Vernetzung den Gesellschaftsteilnehmern, die Teilnahme an Protesten, Diskussionen und Demonstrationen virtuell vorzunehmen und beschränkt diese durch eine wachsende Zahl der eigenen Teilnahmen auf einen Informationsaustausch.

Die fehlende emotionale Attraktion, die bei persönlicher Interaktion innerhalb von gleichartig konditionierten Menschengruppen, einen gemeinschaftlichen revolutionären Willen erst ermöglicht, führt beinahe zwangsläufig zu einer Gesellschaft der Kritiker, die zwar in ihrer Kritik kaum eine Grenzen kennen, aber analog den Willen zu einer tatsächlichen Veränderung verlieren.

Informationen führen zu Überzeugungen, aber nicht zu überzeugenden Handlungen. Diese basieren auf Emotionen.

Unter Berücksichtigung dieser Gesetzmäßigkeit lässt sich der Erfolg der arabischen Revolutionen ebenso begründen, wie der Misserfolg der „Occupy“ und „Empört Euch“ Bewegungen, die nahezu bedeutungslos geworden sind. Die arabischen Revolutionen haben im Gegensatz zu den europäischen Bewegungen, Informationsmedien vornehmlich benutzt um die Teilnahme an Demonstrationen zu bewirken und konnten erst durch die Anwesenheit der Massen ihre Ziele umsetzen, während die europäischen Bewegungen schon von Beginn an auf Information durch die Medien gesetzt haben.

In Europa waren viel mehr Menschen über die Ziele der Bewegungen informiert, als die in Arabien lebenden Menschen über die Ziele der Revolution. Die persönliche Teilnahme wurde durch das Medium fälschlicher Weise suggeriert und verhinderte die tatsächliche Teilnahme und somit den Erfolg.

Revolutionen folgen Mustern der Massenbeteiligung, sie brauchen Missstände als Begründungen und ein gesellschaftsübergreifendes Ungerechtigkeitsempfinden als auslösenden Konsens. Einstmals wurde versucht möglichen revolutionären Bestrebungen durch Falschinformation zu begegnen. Heute geschieht das weitaus effektiver durch Verunsicherung mittels eines Überangebots an Informationen, die wirkungsvoll einen emotionalen Konsens verhindern.

Es wird in Zukunft nur dann eine zwingend notwendige Revolution geben, wenn das maßgebliche Medium, das Internet sie nicht trägt, sondern nur begleitet.

Ich verbleibe in diesem Sinne

Heinz Sauren

Heinz Sauren studierte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster,
Rechtswissenschaften und Philosophie. Im weiteren bezeichnet er sich als Autodidakt.

Beruf: Schriftsteller
Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (VS)

Berufung: Buchautor, Kolumnist, Essayist, Aphoristiker und Freigeist

Politische Ausrichtung
Politische Einstellungen sollten keinen Parteien-, sondern einen begründeten Sachbezug haben, daher reicht mein politisches Spektrum von rechtsliberal bis linkskonservativ und in Fällen empfundener Ungerechtigkeit, darf es auch mal etwas Anarchie sein.

Religiöse Einstellung
Die etwaige Existenz oder Nichtexistenz eines Schöpfergottes ist nicht, von persönlichen Präferenzen, gesellschaftlichen Definitionen oder einem Glauben daran, abhängig.

Seine Lieblingszitate

” Die meisten Menschen haben einen Erkenntnisradius gleich null, das nennen sie dann ihren Standpunkt.” Albert Einstein

“Es gibt kein richtiges Leben im falschen.” Theodor Adorno

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09.03.2013 Galerist, Zitat: Kindergarten und Schlimmer!"

GFDK - Eva Horstick-Schmitt

Persönliche Eindrücke von der Art Karlsruhe - Wenn 220 Galeristen  15000 Werke ausstellen, können sie getrost 12000 davon als DEKO Material für jedwedes Mittelstandswohnzimmer als "schlimmer wohnen" erahnen. Gibt diese Messe Einblicke in die Dekowelten von Heute mit Konzepten der Banalitäten oder ist das der neue deutsche WEG der Kunst?

Mittelmässigkeit, Masse, und die wirklich guten Werke mit der Lupe suchen?

Der alt gediente röhrende Hirsch musste  genauso herhalten für die Leinwand , wie auch einfach nette Blockstreifen auf einer weissen Leinwand. Gemixte Farben auf überdimensionierten Bildern - allein die Grösse macht es dann?  

Einer hängte sogar ein wirklich schlecht gedrucktes Foto auf Leinwand an die Kunstmessewand und scheute sich nicht einen wahnsinnig wichtigen Stich mitten durch zu malen. Ein andere Galerie legte mitten in den Raum eine Ansammlung von bedruckten Kissen mit banalen Motiven. Herzlich willkommen in der Wirklichkeit DEUTSCHER Wohnlandschaften, vertreten durch die Kunst, oder die , die sie dafür halten.

Ist das der Sinn einer Kunstmesse 2013 im Süden von Deutschland?

Ich habe Künstlerinnen, einen Galeristen und Besucher befragt nach ihrer persönlichen Meinung zur Auswahl der präsentierten Werke .

Galerist Zitat : Kindergarten und Schlimmer!"

Skulpturenkünstlerin: "Ich bin durch sämtliche Hallen gelatscht und völlig fertig von all der Deko". Null Energie.

Besucher 60 Jahre alter Sammler: " Die wirklich guten Werke gibt es, gehen aber unter im Dekopalast für "Möbelhersteller".

Neues? Fehlalarm!

Eine andere Künstlerin sagte mir, sie müsse 2000 Euro zum Stand dazu zahlen, wie alle Künstler einer bestimmten Galerie das müssten, damit die Galerie ihren Stand bezahlen kann.

Armes Galerien-DEUTSCHLAND?

Leider habe ich die Eröffnungsrede , sowie die Rede des Künstlers Prof.Markus Lüpertz verpasst.

Hätte mich sehr  interessiert.

Die Ausstellungsflächen sind perfekt, nur die Inhalte lassen wirklich  oftmals zu Wünschen übrig.

Aus meiner Sicht war die Messe professionell installiert.

Leider liessen das viele Galerien vermissen mit ihrer Art der Sicht auf die Kunst.

Das was wir auf etlichen Messeständen sahen, war nicht mehr als Kindergartengeflüster, ausgenommen eben einiger guter Werke bei ausgesuchten Galerien, die man an 10 Fingern abzählen konnte. Was uns am meissten schockte waren banale Malereien , die zeitweise an unsere Schulzeiten erinnern liessen.

Quantität ist nicht immer gleich Qualität.

Lässt sich eine Kunst-Messe mit ausschliesslich wirklich guten und geschulten  Galeristen ein, wäre es sicher mehr als spannend. Aber bei all dem Gewusel an Kunst und Bildchen an weissen Wänden, könnte man meinen, der allgemeine Kunstverstand in DE geht den Bach herunter!

Austauschbare Deko macht keine Wahrhaftigkeit.

Aber irgendwie muss die Messeleitung  220 zahlende Galeristen auf den Plan rufen und vielleicht zählt dann eben nicht mehr insgesamt die Qualität , sondern das was am Ende eingenommen wird durch die Vermietung der QM. Wer auf einer Art Cologne war, der sieht zumeist einen enorm grossen  Anteil an guten und renomierten Galerien und keine Lückenfüller.

Hier ist es umgekehrt.

Es gibt einige gute und der Rest ist Geschichte.

Das Volk, welches über Kunst schwadroniert , zahlt 25 Euro für den Katalog, in dem zum grössten Teil eben Galerien vertreten sind, die das passende Outfit für ihre Wohnung anbieten.

Sammler würden derartiges wahrlich nicht kaufen.

Die Ausstellungsflächen sind perfekt, nur die Inhalte lassen wirklich oftmals zu Wünschen übrig. Inhalte gibt es in DE immer weniger, was zählt ist der Markt und die Eitelkeiten. Nach dem Motto : "Ich war als Galerie dabei!" selbst wenn ich auch meinen Stand auf der Messe die Künstler zahlen lasse. Was solls. Austauschbahre Bühne einer nach rückwärts gerichteten Szene, die auf ihren hohen Hacken der Eitelkeiten sich irgendwann die Beine bricht.

Es war mehr als langweilig hätte es nicht die perfekte Organisation gegeben, aber was nützt der Schein? Sauber und adrett . Alles perfekt.

Das Sein wäre mir lieber.

Das echte und authentische Werk scheint in DE  fast kein Gehör mehr zu finden.

Es gab einige interessante Skulpturen, die sicher sehenswert sind , wie auch Gemälde, die eine treffliche Aussage haben, sowie etliche Fotografien eine Augenweide darstellen.

Insgesamt aber ist die "Kunstmesse" für mich eine Enttäuschung und einige Galeristen haben das auch klar kommuniziert indem sie die Messequlität in frage stellten. Öffentlich äusern will sich aber keiner von ihnen, Warum? Angst vor der Wahrheit, dass diese Messe in Wirklichkeit gehypt wird u.a. durch die gute PR. Den Namen Kunstmesse hat man nur verdient, wenn alle wirklich guten Galerien in einer einzigen Halle wären und den Rest nach Hause schickt. Dann wären allerdings viele Hallen leer.

Nur reicht das aus für eine Messe, die sich im Vorfeld schon selbst erhebt über den Rest der Republik?

Eva Horstick-Schmitt

Die art Karlsruhe (Eigenschreibweise art KARLSRUHE) ist eine internationale Kunstmesse für Klassische Moderne und Gegenwartskunst in Karlsruhe. Sie wird von der Karlsruher Messe- und Kongress-GmbH seit 2004 jährlich im März auf dem Gelände der Messe Karlsruhe durchgeführt. Gründer und Künstlerischer Leiter ist der Galerist Ewald Karl Schrade. Die art Karlsruhe findet jeweils Anfang März statt, im Jahr 2013 vom 7. bis 10. März. Quelle: wikipedia

art KARLSRUHE 2013

Mit Leidenschaft für die Kunst

Die art KARLSRUHE feiert 2013 ihr 10-jähriges Bestehen. One-Artist-Shows, großzügige Skulpturenplätze sowie exklusive Sonderausstellungen sind die Basis für die Erfolgsgeschichte der art KARLSRUHE, die sich zu einer der wichtigsten Kunstmessen im deutschsprachigen Raum entwickelt hat.

Feiern Sie mit uns, wenn die art KARLSRUHE im Jubiläumsjahr erneut den Bogen von der Klassischen Moderne zur Gegenwartskunst spannt. Quelle: www.art-karlsruhe.de

 

 

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09.03.2013 Kein Vertrauen, keine erfüllende Liebe

GFDK - Dr. Liane Bednarz - 7 Bilder

Vielleicht sollten Paare wie Ferdinand und Luise heutzutage Tandem fahren. Denn Tandemfahren „bringt mehr als jede Paartherapie“, wie der Grazer Schriftsteller Clemens J. Setz gerade gegenüber dem österreichischen „Standard“ feststellte. Auf dem Tandem könne man „nicht lügen: Wenn da einer aufhört, seinen Part zu tun, merkt das der andere sofort. Auf dem Tandem kann man sich auch nicht rausreden. Gleichzeitig lernt man aber auch, dem Partner zu vertrauen."

Kein Vertrauen, keine erfüllende Liebe

Gleich vorweg: Fehlendes Vertrauen ist für Regisseurin Amélie Niermeyer der Schlüssel für das Scheitern der Liebe zwischen Schillers beiden Protagonisten: „Diese Liebe hätte auch ohne Intrige keine Sicherheit, weil das Vertrauen fehlt“ und „Ferdinand fällt auf die Intrige rein, weil er nicht vertraut“, sagte sie gegenüber der Münchner Abendzeitung.

Und so zeigt Niermeyer ihr persönliches Lieblingsstück, das sie nun auf Einladung von Residenztheater-Intendant Martin Kusej erstmalig inszeniert, als emotionalen Höllenritt zweier delirierend Liebender, der geradewegs hinabführt in den gemeinsamen Tod. Einen Tod, der Luise (Andrea Wenzl) und Ferdinand (Michael Klammer) im Liebeswahn so süßlich erscheint wie die vergiftete Limonade, die beide schließlich umbringt.

Das Setting von Schillers 1784 uraufgeführtem Meisterwerk kommt in der Niermeyer-Version kühl und puristisch daher. Die ansonsten dunkle Bühne (Stéphanie Laimé) wird von einem beigen, raumgreifenden Gummi-Kubus dominiert, der immer wieder gedreht wird, sich also mal spitz, mal flächig präsentiert. Den Figuren lässt er dadurch wenig Raum. Gespielt wird „Kabale und Liebe“ auf schwarzer Asche.

Ferdinand und Luise sind ein leidenschaftliches Sturm-und-Drang-Paar, aufgeschrieben vom gerade einmal 23-jährigen Schiller. In München 2013 scheitern die beiden allerdings nicht – wie in der Urfassung – primär an den Standesgrenzen, die die Heirat zwischen der Tochter des kleinbürgerlichen Musikers Miller und dem adligen Sohn des Präsidenten an einem deutschen Fürstenhof unmöglich machen. Nein, heute gehen sie vor allem an der Radikalität und Absolutheit, an der bedingungslosen Anbetung ihrer Liebe zugrunde, in der auf Seiten Ferdinands zugleich eine große Verblendung liegt.

Schmerz versus Unreife

Während Andrea Wenzl als Luise die wahrhaft Liebende gibt, fehlt Ferdinand dieser Tiefgang. Er ist vor allem berauscht von einer Idee von Liebe, mehr verliebt in die Liebe als wirklich liebend. Wer gerade „1913“ von Florian Illies gelesen hat, fühlt sich vielleicht an Franz Kafkas Liebe zu Felice Bauer erinnert. Auch damals liebte man aneinander vorbei; kreiste man letztlich mehr um sich selbst als um das Objekt der Begierde.

Als Idee hat eine solche „Verheutigung“ von Schillers wildem Sturm-und-Drang Stück gewiss etwas Modernes, Jetztzeitiges. Standesgrenzen haben im 21. Jahrhundert deutlich an Bedeutung verloren. Leider jedoch wirkt das Gefälle der geistigen und emotionalen Reife von Niermeyers Ferdinand und Luise, wenn auch in Schillers Stück im Ansatz so angelegt, zu groß.

Andrea Wenzls herausragende Luise spielt diesen infantil-trotteligen, vor geschwätzigem Pathos triefenden und zu kindlich-unreifen Wutausbrüchen neigenden Ferdinand buchstäblich an die Wand. Bewegter Mann vor bewegtem Kubus. Nicht mehr.

Inferno der Gefühle

Andrea Wenzls Luise wird so zum Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung. Sie ist es, die das Publikum in ihren Bann zieht. Virtuos. Ganz Schmerzensfrau. Leid. Depression. Verzweifelte Liebe. Schreie. Tränen. Leidenschaftliche Küsse. Ein düsteres Gemüt. Eine große Depressivität. Hell sind hier nur ihre blonden Haare, ist nur der weiße Kragen der ansonsten stets schwarz gekleideten Musikertochter.

Aber eines ist die zierliche Erscheinung mit der rauhen und durchdringenden Stimme dort oben auf der Bühne nicht: schwach. Luise strahlt zu jedem Zeitpunkt Herrschaftswissen aus. Sie ahnt die Katastrophe. Die Katastrophe scheint sogar in ihr angelegt zu sein. Und so steigt sie bewusst hinab in den leidenden Abgrund, beschwört die Liebe umso stärker, je auswegloser die Situation erscheint. Während alle anderen Figuren durch enge Türen in den Kubus ein- und wieder austreten, bleibt Luise durchweg außen vor. Mal als Akteurin. Mal einfach nur als stille Beobachterin am Rande des Geschehens.

Der infantile Ferdinand, der größenwahnsinnige Wurm

Michael Klammer hingegen spielt einen infantilen Ferdinand, ein Fähnchen im Wind der eigenen Emotionen. Seine Liebesschwüre wirken plappernd, hingesäuselt, emotional so unreif wie seine ganze Person. Ganz anders als etwa der junge Klaus-Maria Brandauer in der legendären Burgtheater-Inszenierung Klingenbergs aus dem Jahr 1975 ist Klammers Ferdinand nicht der distinguierte Edelmann mit stürmischer Seele, sondern ein großes plumpes Kind, das binnen Sekunden zwischen Tränen, Lachen und kolossalen Wutausbrüchen hin und her changiert und sich obendrein aus einer Art Übersprungshandlung die Kleider vom Leib reißt.

Und diese Kleider sind so zusammengestückelt wie Ferdinands emotionaler Setzkasten: Graue Stoffstiefel, ausgebeulte Hose, kariertes Sakko mit apfelgrünem Innenfutter und ein ärmelloser Pullover im Missoni-Style. Klar, Michael Klammer füllt den so angelegten Ferdinand gut aus. Ja, er spielt ihn sogar richtig gut. Aber die Frage bleibt, ob die Rolle von der Regie tatsächlich so gut angelegt ist. Denn es wirkt schon arg unglaubwürdig, dass die ernste Luise eine so zappelige Erscheinung liebt. Da beißt sich was. Und daran vermögen auch die innigen Küsse wenig zu ändern.

Eine Stärke in Niermeyers Inszenierung ist der von ihr gesetzte Fokus auf „Wurm“ (Shenja Lacher). Wurms Rolle bei Schiller: Er möchte Luise zur Frau haben, kann davon aber weder sie noch ihren Vater überzeugen. Der Verschmähte verrät Ferdinands Vater die amour fou mit Luise und ersinnt die Kabale, die Intrige, welche die beiden auseinanderbringen soll. Luise soll sich Wurms perfidem Plan zufolge Ferdinand gegenüber „verdächtig machen“: Sie soll zu diesem Zweck erpresst werden, einen Brief an den Hofmarschall von Kalb zu schreiben, in dem sie diesem eine unwahre Liebe gesteht, was dann natürlich Ferdinand zugetragen werden soll.

Dieses Ansinnen ist ganz im Sinne von Ferdinands Vater, der seinen Filius mit Lady Milford, der Mätresse des Fürsten, verheiraten will, um so seine eigene Stellung am Hof zu festigen. Das alles ist bekannt. Auch dass Wurm auf der Bühne oft als schmieriger Kerl gezeigt wird. So auch bei Niermeyer: mit fettigen Haaren, beiger Lederhose- und -weste, dunkelbraunem Hemd samt ebensolcher Krawatte im Möchtegern-Retro-Style. Ja, Wurm wäre gerne cool. Ist er aber nicht. Er bleibt ein öliger Spießer, der zwar die E-Gitarre rausholt, auf dieser dann aber nur eine italienische Schmonzette zum Besten gibt.

Niermeyer geht nun aber einen Schritt weiter: sie legt einen größenwahnsinnigen Charakter frei, einen narzisstisch gekränkten Außenseiter, dem das „Kinn herausgequollen“ ist, wie Luises Vater voller Abscheu sagt. Shenja Lacher zeigt einen Wurm, der seine narzisstische Kränkung durch Allmachtsphantasien kompensiert und voller Wut von der erträumten Herrschaft über andere fabuliert. Nein, das steht so nicht in Schillers Originaltext. Aber genau diese Zugabe, diese Akzentuierung, dieser psychologische Zoom auf Wurms verdorbene Außenseiterseele, die Freilegung des hässlichen inneren Anlitzes hebt Schillers Klassiker hinüber ins Heute.

Der alte Miller

Die charakterliche Antipode Wurms und Ferdinands ist Luises Vater, der alte Miller, glänzend verkörpert von Götz Schulte. Der als selbstbewusst angelegte bürgerliche Musiker zeigt Haltung, steht immer kerzengerade auf der Bühne, in Weste, Gehrock und – als Coolness-Element – schwarzer Lederhose.

Durch die rigorose Streichung von Luises sozial überambitionierter Mutter kommt die innige Vater-Tochter-Beziehung besonders gut zum Tragen. Ja, ganz sicher: Amélie Niermeyers Miller liebt seine Tochter über alle Maßen, ist tief verzweifelt, will ihre Seele retten, aber sieht sie doch unaufhörlich näher an den Abgrund heranrutschen. So weint er in seiner Hilflosigkeit. Zeigt das blutende Vaterherz. Zeigt, was wahre Liebe und Empathie sind und kontrastiert so die überhitzte, doch eher dem eigenen Ego dienende Verliebtheit Ferdinands, die bei der ersten Enttäuschung, dem ersten vermeintlichen Verrat sofort in rasende Rachegefühle und Hass umschlägt.

Ferdinands Vater (großartig: Guntram Brattia) hingegen ist ein grober und brutal wirkender Machtmensch in schwarzer Hose, schwarzem Rolli und diesen schwarz-weißen Schuhen eines Al Capone-Gangsters. Ihm gegenüber wirkt der völlig im höfischen Chichi-aufgehende und von nichts anderem schwafelnde Hofmarschall von Kalb (Migues Abrantes Ostrowski) noch komischer. Merkwürdig aber, dass Migues Abrantes Ostrowski im Kalbschen Kostüm zugleich als Kammerdiener Lady Milfords auftritt. Geschenkt: Denn auch als solcher bringt er ein paar heitere Momente in das ansonsten so düstere Drama: Immer wieder wirft er der Lady mit maliziösem Blick edle weiße Perlen wie Knallerbsen mit voller Wucht vor die Füße. Klack, klack, peng. Präsente des Fürsten, die dieser durch den Verkauf von Landeskindern ins Ausland erwarb.

Lady Milford (Hanna Scheibe) ist beim Zusammentreffen mit Ferdinand zunächst ganz leidenschaftlich, mondän und besitzergreifend. Im rostbraunen Paillettenabendkleid und ebensolchen Wasserwellen legt sie aber nach und nach ihren besseren Charakteranteil frei, was durch ihren schlichten dunklen Abendzweiteiler in ihrer Szene mit Luise, gegenüber der sie aber verblasst, weiter unterstrichen wird. Auch bei ihr stellt sich die Frage: kann eine solche Frau Niermeyers Ferdinand lieben?

Das Ende

Aber wie schon am Anfang angekündigt, es kommt auch bei Niermeyer, wie es nach Schiller nun einmal kommen muss: Es geht ans Sterben. Ein Limonade-Sterben zwar, aber Tod ist eben Tod. Und dass auch in einer Limonadenvergiftung großes Gefühl stecken kann, verdanken wir der souveränen Schmerzensfrau Luise. Sie allein schiebt den Kubus nach hinten weg, schafft Platz zum Sterben. Als sie Ferdinand gesteht, dass ihr Brief erzwungen wurde, ist dieser wie immer überfordert. Luise aber nimmt den Tod hin. Souverän bis zum Schluss. Wenn also Amélie Niermeyer in München Maßstäbe gesetzt hat, dann ganz sicher mit ihrer eindrucksvollen Luise.

Dr. Liane Bednarz studierte Rechtswissenschaften in Passau, Genf und Heidelberg. Sie wurde 2005 zum Dr. iur. promoviert und arbeitet als Rechtsanwältin im Bereich "Mergers & Acquisitions". Liane Bednarz war Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung und schrieb für die "Westfalenpost Schwelm". 

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