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03.12.2012 Lesung im Literaturhaus München

Am Puls der Avantgarde - mit Florian Illies auf Zeitreise in das Jahr 1913

von: GFDK - Liane Bednarz - 3 Bilder

Lesung aus dem Bestseller „1913 – der Sommer des Jahrhunderts“ im Literaturhaus München.

„Die ‚Welt der Frau‘, eine Beilage der ‚Gartenlaube‘, meldet in Nummer 5: ‚Das Abendkleid dieser Saison zeichnet sich durch luxuriöse Gepräge und phantastische Drapierungen aus, die auch der geschicktesten Schneiderin manch harte Nuss zu knacken geben.‘ Man kann sich für die schönsten Kleider direkt Schnittmuster bestellen. Interessant sind die möglichen Hüftbreiten: 116, 112, 108, 104. Darunter ist nichts denkbar. Erst in der Nummer 9 hat dann die Redaktion ein Erbarmen und kündigt groß an: ‚Mode für schlanke Damen‘!“ Rund 99 Jahre später, im November 2012 nämlich, sorgt diese Meldung aus dem Jahr 1913 für große Heiterkeit. Ja, es war anders, das Leben damals, in das uns Florian Illies in seinem neuen und rasant auf die Bestsellerlisten geschossenen Buch „1913 – der Sommer des Jahrhunderts“ hineinzoomt.


„Berlin, Paris, München, Wien. Das waren die vier Frontstädte der Moderne 1913“, heißt es in Illies' bei S. Fischer erschienenem Buch. In München nun las der Autor daraus. Eingeladen dazu hatte das Literaturhaus. Zu einem Podiumsgespräch mit Illies ebenfalls eingeladen: Michael Krüger, Geschäftsführer des Münchner Hanser-Verlags.

Ein Jahr des geistigen Umsturzes: Avantgarde vs. Tradition

Illies, ehemaliger Feuilletonchef der ZEIT, ist heute geschäftsführender Gesellschafter des Auktionshauses „Villa Grisebach“. Sein als Sachbuch eingestuftes neuestes Werk erntete flächendeckendes Lob von der taz bis zur WELT, von der FAZ bis zur SZ, vom SPIEGEL und vom Deutschlandradio Kultur.


Was ist so interessant am Jahr 1913? Zunächst einmal war es das letzte Jahr vor dem Ausbruch des 1. Weltkriegs. Ein „Schlüsseljahr“ also, gewissermaßen das „Gipfeljahr der neueren Kulturentwicklung Europas“, wie Reinhard G. Wittmann in seiner Begrüßung hervorhob. Für den Leiter des Literaturhauses ist 1913 ein „Jahr des geistigen Umsturzes“ und ein „Gegeneinander“ avantgardistischer Bestrebungen einerseits und konservierender Kräfte andererseits. Nicht nur in den Künsten, auch in den Wissenschaften und in Alltagsphänomenen. Fortschrittsbegeisterung traf auf den Untergang der Titanic als „Menetekel“.

Die Lust am Verfall und am Untergang

Hoffnung also traf auf Verfall. Bestens illustriert durch Michael Krüger, der seine Einführung mit einem Schlüsselsatz Thomas Manns begann: „Mein ganzes Interesse galt immer dem Verfall, und das ist es wohl eigentlich, was mich hindert, mich für den Fortschritt zu interessieren.“ Ach ja, die Lust am Verfall, die Lust am Untergang. Man gefiel sich darin, anno 1913: „alle wollen jetzt kompliziert und geheimnisvoll sein“, zitierte Michael Krüger aus der Novelle „Am Südhang“ des verarmten baltischen Grafen Eduard von Keyserling, natürlich auch ein Protagonist in „1913“. Und dann war da natürlich jenes Leiden, das damals so viele Künstler peinigte, jenes Leiden, das irgendwo zwischen Weltschmerz und Depressionen angesiedelt war und sich wie ein roter Faden durch „1913“ zieht: die „Neurasthenie“, bei Musil etwa wie folgt diagnostiziert: „allgemeine Neurasthenie schweren Grades unter Mitbeteiligung des Herzens (Herzneurose). Illies schreibt dazu: „Schöner lässt sich das Leiden an der Moderne nicht zusammenfassen.“

„1913“ – „ein Schnitt durch die Zeit“

Was aber ist nun das Besondere an Illies „1913“? Für Krüger – mit dem Blick des Verlegers – ist es Illies‘ „Schnitt durch die Zeit“, mit dem er das Jahr in zwölf Monate unterteilt und in diesen wiederum die Geschehnisse in kurzen Sequenzen aneinanderreiht. Und so das „Disparate“, das „Zentrifugale“ zusammenfasst, ohne „dass ein großer Thesenapparat aufgebaut wird“. Vielmehr überlasse der manchmal süffisante, manchmal ironische Ton Illies‘ dem Leser die Interpretation dieser bisweilen „komischen Leidensgeschichten“. Gemeint sind die Leiden all jener Geistesgrößen, deren Namen uns bis heute elektrisieren: Marcel Proust, Rainer Maria Rilke, Gottfried Benn, Oskar Kokoschka, Alma Mahler und viele andere mehr.

Duchamp und Malewitsch - Beginn statt Ende im Jahre 1913

Illies, klassisch elegant gekleidet mit rosa Hemd und dunklem Sakko, berichtete zunächst von zwei Kunstwerken, die 1913 entstanden und ihn zu seinem Buch inspirierten: Marcel Duchamps erstes „Ready-Made“ und Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“. Urpunkte der Moderne, die Illies vor die zentrale Frage stellten: „Könnte es so sein, dass 1913 gar nicht alles zu Ende ging, sondern eigentlich alles begann?“ Illies, so erfuhren wir, interessiert sich nämlich nicht so sehr für den Verfall. Blickt also gewissermaßen Thomas-Mann-antipodisch auf die Welt. Und eben dieser Focus auf den Beginn, ohne schon die Ereignisse des Folgejahres 1914 im Blick zu haben, die ja auch die Künstler 1913 noch nicht kennen konnten, sei die eigentliche Herausforderung beim Schreiben gewesen. Dem Münchner Publikum versprach Illies einen Sprung durch die Monate, um so ein Gefühl für das „ungleichzeitige Gleichzeitige“ zu vermitteln, das das Buch in seiner Collagentechnik ausmache.

Humorvoller Parforceritt durch das Jahr 1913

Chronologisch korrekt begann der 42-jährige Autor am Anfang des Jahres 1913: „Es ist die erste Sekunde des Jahres 1913. Ein Schuss hallt durch die dunkle Nacht.“ Abgefeuert durch den damals Zwölfjährigen Louis Armstrong. In New Orleans. Das zentrale Jahr der kontinentaleuropäischen Moderne fängt bei Illies in New Orleans an. Mit der zweiten „Livetickermeldung“, wie die taz die einzelnen Passagen nannte, landet Illies im Herzen Europas, in Prag. Und im leidenden Herzen Franz Kafkas, der sich – wie auch das weitere Jahr 1913 hindurch - in an Skurrilität kaum zu toppenden Liebesbriefen nach Felice Bauer in Berlin verzehrt. Weiter geht es nach Paris. Dort wurde im Louvre die „Mona Lisa“ gestohlen.


Das Münchner Publikum im ausverkauften Literaturhaus erlebt einen Parforceritt durch das Jahr 1913. Und man muss immer wieder über den trockenen Humor Illies‘ lachen, wenn er seine spitzen ironischen Kommentare zu all den Begebenheiten vorliest, die das Buch so ungemein leichtfüßig machen. Man erfährt etwa, wie sehr sich Arnold Schönberg mit seiner Phobie vor der Zahl „13“ herumplagte. So sehr, dass er aus dem Titel seiner Oper „Moses und Aron“ das zweite „a“ von „Aaron“ strich, um bloß nicht 13 Buchstaben zu haben. Und was für eine Angst er hatte, an einem Freitag, den 13. zu sterben. Doch Illies-typisch heißt es sodann trocken: „Aber es half alles nichts. Arnold Schönberg starb an einem Freitag, dem 13.“ Schwarzer Humor at its best. Lachen im Publikum.


Wir begegnen Rilke, der „zeitlebens angewiesen war auf die Handlungsanweisungen reifer Damen“ und wiederum Kafka, der Felice in seinem „etwa zweihundertsten Brief“ fragt: „Kannst Du eigentlich meine Schrift lesen?“ Wieder muss man herzlich lachen. Wie sehr sich die Zeiten doch ändern. Denn heute schreibt man längst auch Liebesbriefe durchaus via Email oder Facebook.

München – die Gediegene unter den „Frontstädten der Moderne“

In München – wir erinnern uns: eine der „Frontstädte der Moderne“ - ging es, Frontstadt hin, Frontstadt her, alles einen Tick gediegener als andernorts zu, blies der Sturm der Moderne nicht ganz so orkanartig, wie Illies das Münchner Publikum wissen lässt: „München hingegen war stilvoll und doch etwas zur Ruhe gekommen – was am deutlichsten daran zu sehen ist, dass man in München bereits mit der Selbstglorifizierung anfängt (wofür in Berlin kein Mensch Zeit hat)“.


Wesentlich wilder war das Leben in Wien, für Illies die „Zentrale der Moderne anno 1913“. Zu erleben etwa an der zügellosen Leidenschaft, die Oskar Kokoschka für Alma Mahler - das „schönste Mädchen Wiens“ - ergriffen hatte und die ihn aus lauter Angst vor potentiellen Nebenbuhlern leiden lies, wie Illies mit hoher Stimme intonierte: „Almi, ich möchte nicht, dass irgendein Auge Deinen offenen Busen sieht, im Schlafrock oder Kleid.“ Alma wiederum war „besessen von seiner Besessenheit“.

Doch Illies nimmt dem Publikum schon im Februar jede Illusion und kündigt an, dass Alma dereinst nicht Kokoschka, sondern Gropius ehelichen wird: „Aber unter uns“ – Illies schaut direkt ins Publikum – „er ist es am Ende, der Alma heiraten wird, nicht Kokoschka.“ Im Juni begegnen wir wieder Kafka, der Felice Bauer mit einer pathetischen Selbstanklage in Briefform, „The Worst Heiratsantrag in the World“ macht. „Ein Heiratsantrag als Offenbarungseid“, wie Illies treffend vorliest. Das Jahr endet schließlich am 31. Dezember mit einem Tagebucheintrag Arthur Schnitzlers, in dem er über die Abendgesellschaft an jenem Tag schreibt: „Es wurde Roulette gespielt.“

LEIDENschaftliche Lieben

Unterbrochen wurde Illies' Ritt durch die Monate durch ein Gespräch mit Krüger, der immer wieder mit klugen Anmerkungen glänzte. Etwa damit, dass die Liebesgeschichten der Künstler in „1913“ nie gut ausgehen, egal ob bei Kafka, Rilke oder Kokoschka, der sich für Alma Mahler „abgemüht hat wie ein Depp“. Illies griff den Gedanken auf und beleuchtete das doch recht „freizügige Zusammenleben in der Avantgarde“, das weite Kreise bis in die bürgerliche Welt hinein zog und zu regelrechten „Zivilisationsbrüchen“ und Auflösungen vieler gesellschaftlicher Prägungen des 19. Jahrhunderts führte. Und der Autor erklärte weiter, dass die Maler jener Zeit für ihn besondere „Seismographen“ waren, was sich etwa bei Franz Marc zeige. Er, der sonst in „paradiesischen Tiervisionen“ schwelgte, in denen er Tiere fast unanimalisch zeigte, sei 1913 plötzlich hiervon abgerückt, habe in dem Bild „Die Wölfe (Balkankrieg)“ das Zerfleischen zum Thema gemacht.


Nach 90 fesselnden Minuten ging es zurück ins Jetzt. Zurück aus dem Jahr 1913 ins Jahr 2012. Und hin zu einem lang anhaltenden Beifall des Publikums. Und einer beeindruckenden Schlange am Signiertisch. Illies hat es ohne Zweifel geschafft, das Zentraljahr der Moderne dem postmodernen Publikum so nahezubringen, als wäre man selbst dabei gewesen.

 

Dr. Liane Bednarz studierte Rechtswissenschaften in Passau, Genf und Heidelberg. Sie wurde 2005 zum Dr. iur. promoviert. Liane Bednarz war Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung und schrieb für die "Westfalenpost Schwelm."

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