Die Türen schließen sich, das Licht erlischt. Doch plötzlich dimmt das Licht im Zuschauerraum langsam wieder hoch. Leise erklingen dazu die ersten Takte von Johann Strauß‘ Walzer „An der schönen blauen Donau“. Die Schauspieler betreten die völlig dunkle Bühne und setzen sich auf ein paar Stühle weit hinten. Und die bilden zusammen mit einem Tisch bereits das komplette Bühnenbild. Die Schauspieler blicken das Publikum frontal an.
Das Licht wird immer heller, immer stärker funkeln die Kristalle des gigantischen Kronleuchters an der Decke. Und im Gleichklang mit diesem Lichtcrescendo wird auch der Walzer immer lauter. Ein schöner irritativer Moment. Wer ist hier Zuschauer, wer beobachtet wen?
„Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit“
Will Michael Thalheimer dem Publikum mit seiner Inszenierung von Horváths Erfolgsdrama einen Spiegel vorhalten? Hier, am Deutschen Theater Berlin, an der Stätte der Uraufführung anno 1931? Die Erwartungen nach diesem überraschenden Auftakt sind jedenfalls effektvoll hochgeschraubt.
Und werden nicht enttäuscht. Dem Leitenden Regisseur des Hauses gelingt es, die Dummheit der einzelnen Figuren Schicht um Schicht freizulegen. Ja, Dummheit ist der Schlüssel zu Horváths Stück, das im kleinbürgerlichen Wien und in der Wachau in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen angesiedelt ist, auch wenn es in Berlin recht zeitlos gezeigt wird. Horváth hat seinem Drama den Satz „Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit“ vorangestellt.
Aus Dummheit denkt jeder nur an sich, versucht, das Maximum aus seinem kleinen miesen Leben herauszuholen. Zusammen alleine ist man hier. Die Inszenierung setzt das visuell um: Alle Figuren bleiben stets in Bühnenhintergrund sitzen, treten nicht ab. Man kommt stattdessen für die eigenen Szenen vor an die Rampe. Und geht dann wieder zurück. Vor und zurück. Zurück und vor.
Die Handlung
Die Handlung ist schnell erzählt. Marianne, ein unbedarftes und ungelerntes Mädchen aus der Vorstadt, soll auf Geheiß ihres Vaters, des „Zauberkönigs“, den Fleischhauer Oskar ehelichen. Die völlig unverliebte Marianne trifft indes am Tag ihrer Verlobung den Frauenheld und Strizzi Alfred, sieht in ihm die Erfüllung all ihrer romantisch-naiven Träume, verlässt für ihn den Verlobten, wird schwanger und – natürlich – sitzengelassen. Zuvor musste sie das gemeinsame Baby Leopold auf Befehl Alfreds zu dessen Mutter und Großmutter in die Wachau geben.
Marianne legt schließlich einen sozialen Abstieg zur Revuetänzerin hin. Die Großmutter sieht Alfred durch das Kind um seine Zukunft gebracht und setzt jenes dem Kältetod aus. Schließlich sieht Oskar seine Chance gekommen und holt Marianne zurück, deren Widerstand gegen den ungeliebten Mann inzwischen völlig gebrochen ist.
Horváths Gebrauchsanweisung: „Synthese aus Ernst und Ironie"
Michael Thalheimer dringt tief in die abgründigen „Geschichten“ ein, inszeniert sie in einer Mischung aus äußerst komischen, bisweilen slapstickartigen Elementen und ernsten Szenen. Horváth hätt's gefreut, denn der bat in seiner berühmten „Gebrauchsanweisung“ für seine Stücke um eine "Synthese aus Ernst und Ironie." Mit komödiantischen Elementen betont Thalheimer die Derbheit, die Plumpheit der Figuren.
Fleischhauer Oskar (Peter Moltzen) tritt durchgehend im schwarzen Traueranzug auf und kontrastiert damit plakativ seinen Gehilfen Havlitschek, der in blutüberströmter Fleischerschürze und mit Messer in der Hand stets den wurstfressenden Grobian gibt, der denjenigen verflucht, der seine Würste kritisiert.
Anzug hin, Anzug her, Oskar ist und bleibt unbeholfen und plump. Und sieht dank beeindruckender Unterbauch-Wampe auch so aus. Für besonders viele Lacher sorgt die Szene, in der Oskar vergeblich versucht, Marianne eine Schachtel Pralinen zu überreichen. Die Schachtel hatte er nämlich blöderweise in seiner Anzugtasche untergebracht. Und beim Versuch, jene herauszuziehen, kommt es, wie es kommen muss. Der Schussel hat sich die Hand in der Anzugtasche zusammen mit der Pralinenschachtel eingeklemmt. Oskar zupft und zieht und reißt.
Es hilft zunächst alles nichts. Erst Minuten später sind Hand und Schachtel befreit. Wer gerade Thalheimers „Sommernachtstraum“ am Münchner Residenztheater gesehen hat, ist von so viel Komik nicht überrascht. Die dortigen Szenen der Schauspieltruppe im Wald sind ebenfalls witzig, auch wenn die Inszenierung ansonsten recht brutal ist.
Goodbye plumper Mann, hello Hallodri
Marianne (Katrin Wichmann) erscheint als zarte Elfe im lachsfarbenen Chiffonkleid und mit blondem mädchenhaften Haar. Der Kontrast zu Oskar könnte kaum größer sein. Leider aber fallen solche Mädchen gerne auf die Hallodris rein, auf diese oberflächlich attraktiven Halbstarken. Und als solchen zeigt Thalheimer Alfred (Andreas Döhler). Mit seinem dunklen Haar, seinen Macho-Posen, seinem karierten Anzug, seiner offen frauenverachtenden Art erinnert er an den Ultra-Macho Andreas Baader, jedenfalls an den, den Bernd Eichinger im „Baader-Meinhof-Komplex“ zeigt, oder an die Typen, die der junge Alain Delon einst spielte.
Andreas Döhler arbeitet ihn gut heraus, diesen Aufschneider, diesen Wannabe, dessen Begeisterung für Marianne endet und in eisige Kälte umschlägt, als ihm inmitten der desolaten wirtschaftlichen Lage plötzlich klar wird, was für eine schlechte Partie das mittellose Mädel doch ist. Und so ist eine Äußerung Alfreds zugleich eine der Schlüsselszenen des Stücks: „Ich kann dir nur flüstern, eine rein menschliche Beziehung wird nur dann echt, wenn man etwas voneinander hat.“
Freilegung der Verdorbenheit – Schicht um Schicht
So weit, so tragisch. Aber das ist nur die Oberfläche. Thalheimer dringt viel weiter in die seelischen Schächte der Figuren ein, schält noch die letzten Schicht eines menschlichen Anlitzes ab und legt vor allem bei Oskar eine verdorbene Seele frei, die nur einen Antrieb kennt: das eigene Ich. Oskar ist nicht bloß der arme Verlassene, der seine Marianne sehnsüchtig weiter liebt. Schon kurz nach dem Davonlaufen Mariannes spricht er jenen berühmten Satz, wonach Marianne ihm und seiner Liebe nicht „entgehen“ wird.
Bei Thalheimers Oskar wird dieser Satz kurz darauf zur bedrohlichen Gewissheit. Nunmehr beschwört er seine fortwährende Liebe keineswegs mehr in traurigem Moll, sondern mit einer diabolischen Stimmlage, krächzend und laut, wie man sie aus Horrorfilmen kennt, mit schwarzen Balken unter den Augen und starrem, maliziös-gestörtem Blick. Man erschaudert. Man spürt Beklemmung. Ein Dämon zeigt sich. Ein Quasi-Stalker.
Arme Marianne, denkt man sich. Katrin Wichmann spielt sie großartig, diese tragische Vorstadtschönheit, die bei der Flucht aus der ihr vorbestimmten Tristesse an den Falschen gerät, schließlich im Revuetheater landet, aber dabei doch immer etwas Unverdorbenes, ein kleines bisschen Restgrandezza behält. Sogar dann, als alle sie plötzlich im Nachtclub „Maxim“ sehen, mit entblößter Brust, mit einem bonbonfarbenen und sahnebaiserartigen Tütü.
Und sie mit schwacher Stimme und schiefen Tönen „Das Mädchen aus der Wachau“ singen hören. Ganz einsam steht sie dort, in einem nicht enden wollenden Schneefall aus Konfetti, als sich auf einmal die Bühne um sie herum zu drehen beginnt, und die anderen auf ihren Stühlen sitzend um sie herumkreisen. Mit starrem Blick auf die vermeintlich Gefallene, die aber als einzige noch steht. Ein treffendes Bild!
Die Aussöhnung mit dem entsetzten Vater, dem „Zauberkönig“ misslingt. Michael Gerber spielt ihn als gestrengen und ungemein verbitterten, in Selbstmitleid ertriefenden Greis. Die narzisstische Kränkung durch den sozialen Abstieg der Tochter ist unüberwindbar. In all ihrer gefrierschrankkalten Boshaftigkeit stilisiert Thalheimer auch Alfreds Großmutter (Simone von Zglinicki), die den kleinen Leopold – für sie nur ein störender Bastard - eiskalt in den Tod durch Erkältung schickt. Eine kleinbürgerliche Hexe im Blümchenkittelkleid, die noch ihr übelstes Tun und Handeln völlig normal findet.
Valérie – die kanariengelbe Möchtegern-Madame aus der Vorstadt
Schrill und überzeichnet hingegen erscheint die alternde Tabak-Trafikantin Valérie, der Almut Zilcher eine enorme Bühnenpräsenz gibt. Man sieht eine dunkelhaarige Möchtegern-Madame aus der Vorstadt, die mit ihrem kanariengelben Jackett, ihrem grellem Make-Up und ihren übertriebenen Bewegungen Züge einer Comic-Figur hat. Dem Techtelmechtel mit Alfred folgt ein Flirt mit dem deutschen Studenten Erich aus Kassel, einer verklemmten Type mit Nazi-Attitüde (Moritz Grove).
Valerie hat bisweilen Anflüge echter Empathie, kommentiert derb das Handeln der anderen, ist fast immer schrill, fast immer laut, fast immer überdreht. Thalheimer wahrt hier so gerade noch die Balance, bleibt so eben noch im Rahmen der Stilisierung und überschreitet die Grenze zur Parodie, zur Karikatur nicht. Jene nämlich verbat sich Horváth in der eingangs zitierten Gebrauchsanweisung.
Mit jeder Szene wird die Dummheit der Figuren offensichtlicher. Immer wieder untermalt von den Anfangsklängen des stückprägenden Walzers „An der schönen blauen Donau“. Thalheimer visualisiert diese Entwicklung durch einen besonderen Twist. Nach und nach ziehen sich immer mehr Figuren immer öfter Pappquadrate vor ihr Gesicht, die nur kleine Öffnungen für Mund, Augen und Nase lassen. Sichtbar gemachte Entmenschlichung.
Demaskierung durch Masken. Nur Marianne wird nicht zum Pappgesicht. Zunächst jedenfalls nicht. Bis Oskar auch ihr am Ende ein Pappquadrat gibt. Seine Drohung ist also wahr geworden. Sie ist seiner „Liebe“ nicht entgangen. Statt Zärtlichkeiten gibt es Pappe. Die Resignation und die Tristesse sind perfekt. Und so setzt Michael Thalheimer mit seiner glänzenden Inszenierung Maßstäbe.
Dr. Liane Bednarz studierte Rechtswissenschaften in Passau, Genf und Heidelberg. Sie wurde 2005 zum Dr. iur. promoviert und arbeitet als Rechtsanwältin im Bereich "Mergers & Acquisitions". Liane Bednarz war Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung.