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13.04.2013 ein Stück über zerplatzte Illusionen und Langeweile

Auf dem Landgut der Lethargie - Henkel und Simons inszenieren „Onkel Wanja“ an den Münchner Kammerspielen

von: GFDK - Liane Bednarz

Enge. Engstirnigkeit. Erstarrung. Das sind die ersten, das sind die bleibenden Eindrücke der neuen, humorvollen Inszenierung von Tschechows „Onkel Wanja“ an den Münchner Kammerspielen. Man erlebt eine tunnelhafte Visualisierung des bedrückenden Klassikers um nicht gelebte Träume, lethargisches Selbstmitleid und unendliche Langeweile. Die dunkle Bühne (Muriel Gerstner) ist abgetrennt, die Zuschauer blicken auf eine schwarze Wand, aus der mittig ein schmaler rechteckiger Kasten herausgeschnitten ist.

Gerade hoch genug, um darin zu stehen. Gerade breit genug, um alle Schauspieler gleichzeitig auftreten zu lassen. Ein Schaufenster. Nicht mehr. Bis auf die später zum Einsatz kommende Pistole gibt es keine Requisiten. Davor, unter dem Guckkasten ein schmaler Bühnenrand. Düster-Purismus par excellence.

Die minimalistische Inszenierung trägt Karin Henkels Handschrift, wurde aufgrund einer Erkrankung der Regisseurin aber von Intendant Johan Simons würdig zu Ende geführt. Sie nimmt die Bewegungslosigkeit ins Visier, die das Leben von Tschechows Figuren kennzeichnet. Und verdeutlicht durch die räumliche Nähe, wie sehr sich die einzelnen Charaktere wechselseitig auf die Nerven gehen. Man entkommt einander nicht. Dazu muss man schon abreisen von dem Landgut, auf dem das Stück spielt. Und das alles erzählt Tschechows 1899 uraufgeführtes Drama mit einer Ironie, die in München bis in die klitzekleinste Ecke ausgeleuchtet wird.

„Onkel Wanja“ – ein Stück über zerplatzte Illusionen und Langeweile

„Onkel Wanja“ handelt von Iwan Petrowitsch Wojnizkij (Wanja), der seit Jahren das Gut seiner verstorbenen Schwester bewirtschaftet, um damit vor allem den Lebensunterhalt ihres Witwers, des Professors Alexander Wladimirowitsch Serebrjakow zu finanzieren. Unterstützung erfährt er dabei von seiner Nichte Sofja Alexandrowna, genannt Sonja, der Tochter des Professors aus der Ehe mit Wanjas Schwester.

All die Jahre über haben Wanja, Sonja und vor allem Wanjas Mutter Marija Wassiljewna Wojnizkaja den Professor glühend verehrt, nächtelang seine Werke übersetzt. Nun ist der inzwischen gebrechlich gewordene Hochschullehrer in den Ruhestand eingetreten und – da das Leben in der Stadt zu teuer wurde - zusammen mit seiner zweiten und 40 Jahre jüngeren Frau Jelena Andrejewna zu Wanja und den anderen auf das Landgut gezogen.

Einmal dort angekommen, bricht die ganze Illusion um den vermeintlichen Weltruhm des Professors in sich zusammen, löst sich wie eine Fata Morgana auf. Wanja erkennt, dass Serebrjakow in Wahrheit ein wissenschaftliches Nichts geblieben ist und fühlt sich um sein eigenes Leben betrogen. Er resigniert, verfällt in völlige Lethargie. Als der Professor schließlich ankündigt, das Gut verkaufen zu wollen, kommt es zum Showdown. Wanja versucht ihn zu erschießen, was jedoch wie alles andere in seinem Leben misslingt.

Wanja, der kleine dicke Jammerlappen

Wanja und der Professor. Der Professor und Wanja. Rein optisch könnten beide kaum unterschiedlicher sein. Wanja (Benny Claessens) - wie alle Gutsbewohner in unscheinbaren beige-grau-olivgrünen Tönen gekleidet - ist ein kleiner schäbig aussehender Kerl, der seinen dicklichen Körper in einen viel zu engen scheußlichen Herrenpullover mit Rautenmuster gestopft hat.

Der typische Außenseiter, den wohl nie eine Frau attraktiv fand und der nun, da er urplötzlich die Mittelmäßigkeit des jahrelang bewunderten Serebrjakows erkannt hat, jammert und jammert und ja: jammert. Voller Wut und Trotz sitzt er meistens am Rande des Schaukastens – stehen ist offenbar schon zu anstrengend -, lässt die Beine lustlos hängen und sondert boshafte Monologe über das „Gicht-Gerippe“ ab, den Professor, den keiner kennt und der, wie er nicht müde wird zu behaupten, sein Leben verpfuscht hat.

Benny Claessens spielt es großartig, dieses selbstmitleidige, verbitterte und mit finsterer Miene näselnde 47jährige Pummelchen, das ernsthaft glaubt, aus ihm hätte ein Schopenhauer oder Dostojewski werden können. Und so ist er nun widerborstig wie ein kleiner Junge, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Die monotonen Klageverse Wanjas intoniert Claessens gekonnt mit jener Messerspitze Übertreibung, die immer wieder zu Lachern im Zuschauerraum führt. Und entlarvt seine Figur gerade dadurch als egozentrische, lächerliche Nervensäge.

„Alexandre“ und der vermeintliche Ruhm

Die größte Bewunderin des Professors hingegen ist und bleibt Wanjas Mutter, an der sich zeigt, wie durchdacht diese Inszenierung mit ihren vielen ironischen Elementen ist. Denn Tschechow durchschaut diese Gestalten, die niemals echte Not erleiden mussten, in all ihrer selbstgeschaffenen Lethargie, all ihrem Hang zur Theatralik und Übertreibung. Zu letzterer, nämlich zur unerschütterlichen Bewunderung, nein zum absoluten Anhimmeln des Professors neigt auch Wanjas Mutter Marjia, die hier von Hans Kremer im hochgeschlossenen schwarzen Taft und mit grauem Dutt imposant verkörpert wird.

Sie ignoriert ihren Sohn Wanja, zupft ihm bestenfalls noch den Pulli zurecht. Aber schimpft mit ihm, sobald er ihren „Alexandre“ diskreditiert oder diesem auch nur widerspricht. Die Art und Weise, wie Kremer als Marija den Professor bei gleichzeitiger Verachtung des eigenen Sohns fast weihevoll „Alexandre“ nennt – bei Tschechow heißt er Alexander – ist wunderbar überzeichnet und gerade deshalb für dieses Stück, in dem alle irgendwie aneinander vorbeileben, so passend.

Und der Bewunderte? Ist tatsächlich ziemlich medioker. Elegant gekleidet zwar, das gewiss, im hellblauen Tuch. Mit Krawatte und Einstecktuch sichtbar aus der Stadt kommend, bestrebt, qua Wortwahl unbedingt den Anschein eines akademischen Genies aufrechtzuerhalten. Zugleich aber vollkommen hypochondrisch, larmoyant und über alle Maßen leidend an seiner Gicht oder seinem Rheuma, genau weiß man es nicht. Und natürlich, wie er ständig betont, am Alter. Stephan Bissmeyers spielerische Leistung ist glänzend, er zeigt die Selbstzentriertheit, die das Alter so oft mit sich bringt, das ewige Kreisen um die eigene Gebrechlichkeit und das Zutexten der Umgebung mit den eigenen Krankheiten.

Das Glamourgirl und der Greis

Darunter leidet vor allem die schöne Jelena (Wiebke Puls), seine gerade einmal 27jährige Frau. Sofern diese überhaupt leiden kann. Denn die Jelena, welche die Regie hier zeichnet, ist eiskalt und voller Verachtung für alle anderen. Wie ein Reptil gleitet sie immer wieder mit ihren Händen und pink lackierten Nägeln an der Rückwand des Schaukastens entlang. Optisch eine schillernde Hollywood-Diva der 40er/50er Jahre, mit roten Wasserwelle à la Rita Hayworth und imposanter pinkfarbener Tüll-Robe mit silbrig-funkelnden Strasssteinchen, ist sie charakterlich indes ein recht simples Wesen, das den Professor des vermeintlichen Ruhms wegen, also zwecks Flucht aus der eigenen Mittelmäßigkeit geheiratet hat.

Jelena verwechselte Bewunderung mit Liebe, wie sie selbst zugibt. Nichts ist es nun mit dem erträumten „life of leisure“ als Frau an der Seite eines berühmten Mannes. Aus Goldmarie wurde Pechmarie, und aus dem erträumtem Edel-Ehemann ein unglamouröser Frühvergreister. Diese Akzentuierung von Henkel und Simons trifft ins Heute. Ja doch, auch im 21. Jahrhundert wird noch hochgeheiratet – Feminismus hin, Emanzipation her.

Sonja – Fixstern und Kontrapunkt

Aber es gibt Hoffnung in all der Egozentrik, in diesem Sumpf einer fast schon refrainartig beschworenen Langeweile. Sie heißt Sonja. Gespielt von Anna Drexler, einer erst kurz vor der Premiere eingesprungenen Absolventin der Otto-Falckenberg-Schule. In Tschechows Originaltext ist Sonja ein hässliches Mädchen. Und genau ein solches ist auch im Schaukasten an der Maximilianstraße zu sehen: graues sackartiges Kleid, unförmige schwarze Stiefel, kein Make-Up, fettiges mittelblondes Haar.

Aber oh ha: Drexlers Sonja wird zum Fixpunkt der Inszenierung. Mit witzigen, das Elend stets durchschauenden, aber nie daran verzweifelnden Kommentaren, ist sie der Kontrapunkt zur Tristesse um sie herum. Sie lacht sogar über ihre eigene Hässlichkeit, fest entschlossen, nicht unterzugehen und der Langeweile die Stirn zu bieten. Und das, obwohl sie weiß, dass gerade ihre Hässlichkeit der Grund dafür ist, dass das Objekt ihrer Begierde, Doktor Astrow (Maximilian Simonischek), sie niemals lieben wird.

Drexler schafft es meisterhaft, Sonja zwischen verblüffender Lebensklugheit und kindlichen Zügen hin- und her schwingen zu lassen. Sobald sie Astrow anblickt, ist sie ganz verliebter Teenie, der sogar dann selig lächelt, wenn Astrow ihr achtlos in bester Kumpelmanier über den Kopf streicht und das Haar zerzaust.

Pollyester am E-Bass – so klingt russische Melancholie

Doktor Astrow selbst ist die einzige Schwachstelle an diesem Abend. Eindimensional gezeichnet. Schmierig. Ein heruntergekommener Säufer. Die bei Tschechow angelegte intellektuelle Brillanz und Liebe zur Natur gehen hier leider etwas unter. Auch sein Flirt mit Jelena wirkt nicht recht überzeugend. Ein gut gesetztes Highlight gelingt der Regie hingegen in Gestalt von Polina Lapkovskaja (genannt „Pollyester“), die als Marina über weite Strecken der Inszenierung hinweg im schwarzen Paillettenkleidchen und mit schneewitchenartigem Gesicht und Haar am rechten Bühnenrand steht. Dort zupft sie ihren E-Bass und singt wunderschöne melancholische russische Weisen.

Die optische Begleitkulisse steuert der Fluxus-Künster Robert Filou bei. Die ganze Zeit über laufen Spruchbänder wie „What are you afraid of?“, „Why did you get up this morning?“ oder “Why not work?” wie der Newsfeed eines TV-Nachrichtensenders von rechts nach links horizontal über dem Schaukasten entlang. Diese sollen wohl eine Brücke ins Leben der Zuschauer bauen, wirken bisweilen jedoch etwas gewollt. Aber auch das kann diesen großartigen Abend nicht schmälern.

Mit dieser Inszenierung haben Henkel und Simons den ironischen Röntgenblick des studierten Mediziners Tschechow aufgenommen und die verkorksten Charaktere auf dem Landgut messerscharf seziert. Selten wurde Selbstmitleid so treffend der Lächerlichkeit preisgegeben. Frenetischer Applaus des Premierenpublikums.

 

Dr. Liane Bednarz studierte Rechtswissenschaften in Passau, Genf und Heidelberg. Sie wurde 2005 zum Dr. iur. promoviert und arbeitet als Rechtsanwältin im Bereich "Mergers & Acquisitions". Liane Bednarz war Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung.

 

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