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29.09.2013 Anna Bergmann eröffnet die Saison mit Ibsens „Frau vom Meer“

Der Tod im Brackwasser - Morbidität am Wiener Akademietheater

von: GFDK - Liane Bednarz

Trance. Morbidität. Halbdunkelheit. So beginnt Ibsens „Frau vom Meer“ in der Interpretation von Anna Bergmann. Die Saison 2013/14 am Wiener Akademietheater ist eröffnet. Mit einem Zeitlupen-Prolog. Einem stillen Tanz, Ibsens Worten vorangestellt. Der Blick geht auf die gemauerte nackte Bühnenrückwand. Links ein Aquarium auf einem weißen Sockel im klassizistischen Stil (Bühne: Ben Baur). Gelb-grün angestrahlt. Überall auf dem Fußboden: Vasen mit Blumen. Weiß. Rosa. Lila. Und mit norwegischen Fähnchen. Klingt nett, weckt aber Assoziationen von Friedhof und Beerdigung. Am rechten Bühnenrand: ein braunes Piano samt Schemel. Noch mehr Blumen.

In diese stille Szene hinein erklingen Akkorde von Lana del Reys „Video Games“. Verfremdet und düster. Eine Arbeit des Sounddesigners Heiko Schnurpel. Der Song wird neben dem Klassiker “Wonderful World“ als zweites Leitmotiv den Abend musikalisch begleiten. Alle Schauspieler der Inszenierung stehen auf der Bühne. Sie bewegen sich langsam, sehr langsam gemeinsam zur Musik und schwenken die Arme. Wie Untote. Interaktion gibt es nicht. Auf dem Boden zwischen Aquarium und Klavier liegt unbeachtet eine leblos anmutende, rothaarige Frauengestalt im bunten Seiden-Morgenmantel.

Meerfrau

Das im Jahre 1889 uraufgeführte Stück handelt von der „Meerfrau“ Ellida, die als Tochter eines Leuchtturmwärters an der Westküste Norwegens aufwuchs. Später ehelichte sie den gut situierten Arzt Doktor Wangel. Aus Vernunft. Allerdings zu einem für sie hohen Preis: Dem Entzug der Weite des offenen Meeres. Wangel nahm sie mit in seine Heimat, in die engen Schluchten eines Fjords. Und zu seinen zwei Töchtern. Die Patchwork-Idylle jedoch blieb aus. Keine Nähe, keine wirklichen Beziehungen entstanden. Das einzige gemeinsame Kind der Wangels verstarb im Säuglingsalter.

Anna Bergmann gelingt in Wien das Kunststück, aus einem zwar subtil psychologisierenden, aber handlungsarmen, selten gespielten Stück ein Psychodrama um eine Wahnsinnige zu machen, die am Tod des Kindes, einer langweiligen Ehe und - gleich einer im Fjord gestrandeten Nixe - am Verlust des offenen Meeres zugrunde geht. Der Preis, den die Regisseurin dafür zu zahlen bereit ist: fehlende Text- bzw. Handlungstreue beim Plot.

Gebannt starrt man mit schaudernder Faszination auf die immer schizoider werdende „Meerfrau“, großartig dargestellt von Christiane von Poelnitz. Die Sache wirkt echt. Geht an die Nieren. Diese Ellida ist eine psychisch schwer kranke Frau, die mit monströsen Stimmungsschwankungen die Familie malträtiert. Man könnte meinen, man wohne dem „Grande Finale“ einer Familienaufstellung bei. Regisseurin Bergmann spielt dabei gekonnt mit Assoziationen. Mit ihren langen kupferroten Haaren und ihren eleganten Kleidern (Kostüme: Claudia Gonzáles Espíndola) ist diese Ellida der Inbegriff der femme fatale, erinnert mit der Frisur und ihrem ätherischen Gesicht zugleich auch an Arielle, die zarte und schöne Meerjungfrau, zumindest dann, wenn sie ruhigere Töne anschlägt, was selten genug passiert.

Sturzbach

Ellidas Sehnsucht nach dem Meer wird im weiteren Verlauf zum emotionalen Crescendo, das immer rasanter anschwillt. Ein Gefühlssturzbach, der die elegante Welt der Wangels - visualisiert mittels strahlend weißer Rück- und Seitenwände mit edlen Bildern und Sprossenfenstern - überflutet.

Anna Bergmann dient die Kulisse zugleich als Leinwand für großflächige, rasante, die ganze Bühne ergreifende Video-Sequenzen (Sebastian Pircher, Impulskontrolle). Ellidas Vergangenheit. Die Hochzeit. Das quietschfidele Baby. Dessen Beerdigung. Und immer häufiger: das tiefblaue weite, offene Meer. Und Ellida mit vorgestreckten Armen auf den rauen Klippen. Bergmann spielt hier gekonnt mit dem „Holländer“ Motiv, mit der unentrinnbaren Sogwirkung der See.

Nur leider ist Ellidas Ehemann Wangel (Falk Rockstroh) keine maskuline Senta. Bergmann zeichnet ihn als gute Seele, als zunächst netten kauzigen Provinzarzt, der, emotional völlig überfordert, Ellida beständig und besorgt umtänzelt, der versucht, sie bei Laune zu halten, oder ihr, wenn das nicht gelingen will, Psychopharmaka verabreicht. Optisch mindestens 20 Jahre älter, mit wirrer Frisur, aber grauem eleganten Anzug unter dem weißen Kittel. Lieb, aber langweilig.

Die Restidylle, an der Wangel krampfig festhält, wird jäh zerstört, als Ellida ihm unvermittelt in einem Anfall von Hypernervosität erklärt, dass sie emotional unfrei und die gemeinsame Ehe eine Farce sei. Vor Jahren, noch vor der Ehe, habe sie sich mit einem Seemann verlobt. Dann aber habe ihr Auserwählter fliehen müssen, weil er an seinem Kapitän zum Mörder wurde. Die Rückkehr des Seemanns stünde nun bevor, noch in dieser Nacht. Und für jenen müsse sie frei sein, zumindest frei, sich für ihn entscheiden zu können. Deshalb müsse Wangel sie nun freigeben.

Psychothriller

In Ibsens Text taucht der Seemann wirklich auf und stellt Ellida vor die Wahl, mit ihm fortzugehen. Auch dort verlangt sie von ihrem Mann, sie freizugeben, was dieser schließlich tut. In einer recht abrupten Wendung entscheidet Ellida sich sodann, bei Wangel zu bleiben und wendet sich den Stieftöchtern endlich liebevoller zu. Friede, Freude, Patchwork. Also ganz untypisch für Ibsen; fast unglaubhaft.

Das findet offenbar auch Jungregisseurin Bergmann, von der Süddeutschen Zeitung „das explodierende Fräuleinwunder des deutschen Theaterbetriebs“ genannt. Kühn ändert sie die Handlung (Dramaturgie: Florian Hirsch). Die Rolle des Seemanns bleibt unbesetzt, offen sogar, ob er überhaupt je existiert hat. Seine bevorstehende Rückkehr jedenfalls ist nichts anderes als eine fixe Idee, ein Hirngespinst Ellidas, die schließlich zum wilden Tier wird.

Sie deliriert, sucht das tote Baby. Reißt mit der Kraft der Wahnsinnigen die schweren Planken des Parkettfußbodens raus, und lässt sie dann krachend niederdonnern. So stellt man sich heute Crack-Süchtige vor, wie ferngesteuert auf der Suche nach dem letzten Krümel Stoff. Aus dem zerstörten Fußboden quillt Wasser. Klar, das Meer, denn auch Fjorde bestehen aus Salzwasser, wenn auch in der Brack-Version. Und diese Vorboten des Meeres holen sich nun die Holländer-Ellida mit aller Macht zurück. Hat sie am Ende sogar ihr Kind selbst getötet? Die Regie deutet es an.

Coming-of-Age

Die verbleibenden Figuren kontrastieren scheinbar den Wahnsinn Ellidas, taumeln aber in Wahrheit ihrem ganz eigenen Abgrund entgegen. Das früh pubertierende Luder Hilde (Jasna Fritzi Bauer) räkelt sich in einer fulminanten Coming-of-Age Szene lasziv dem jungen Bildhauer und Tagträumer Lyngstrand (Christoph Luser) entgegen. Der erscheint als zappeliger Hipster mit kitschiger tannengrüner Haarsträhne im blonden Haar, der seine tödliche Lungenkrankheit fröhlich ignoriert und mit Hilde von einer gemeinsamen Zukunft träumt. Einer, die dann auch zerplatzt wie eine Seifenblase: Er hustet.  Spuckt Blut. Bricht zusammen. Alles aus.

Hildes Schwester Bolette (Alexandra Henkel), eine Spießerin, an der nur die Optik jung wirkt, gibt, nachdem sie bei Lyngstrand mit einem unbeholfenen Striptease-Versuch kläglich scheiterte, resigniert dem Werben ihres früheren Lehrers Arnholm (Tilo Nest) nach. Den hatte Wangel allerdings eigentlich nur zur Aufheiterung Ellidas eingeladen. Im Ursprungstext ist Arnholm eher putzig in seinem Werben um Bolette. In Wien sieht man ihn als fiesen und feisten Alterslustmolch, der am Piano ein Mischmasch aus „Video Games“, „Roxanne“ (Police) und „Kiss“ (Prince) zum Besten gibt. In seiner Schmierigkeit, Dumpfheit und grenzenlosen Selbstverliebtheit ist er allerdings etwas überzeichnet. Besonders, wenn er ins Aquarium steigt, untertaucht und vorher noch schnell sein Toupet abnimmt. Das wirkt recht komödiantisch. Fast slapstickhaft. Aber geschenkt.

Ein Highlight im Akademietheater ist wiederum der Auftritt des gerissenen Lebenskünstlers Ballested (Franz J. Csencsits), der sich im Verlauf des Stücks von einem tuntigen und exaltierten Esoteriktypen im Wallegewand optisch immer mehr Ellida annähert. Am Schluss kommt er gar im kupferroten Haar und schwarzem Pailletenkleid daher. Eine Mischung aus Rita Hayworth und Milva.

Brackwasser

Es kommt, wie es kommen muss. Wangel resigniert und besäuft sich. Torkelt volltrunken Arm in Arm mit Arnholm herum, um irgendwann auszurasten. Er schlägt Ellida. Und versucht verzweifelt, die herausgerissenen Planken wieder in den Fußboden einzusetzen. Es misslingt. Eine für den kurzen Moment scheinbar seelisch wieder aufgeräumte, frisch frisierte und adrett angezogene Ellida setzt sich am Ende zu ihm, bittet ihn ein letztes Mal, sie freizugeben. Und tatsächlich, Wangel kapituliert.

Wer das Originalstück kennt, schöpft noch einmal kurz Hoffnung. Vielleicht ist der Spuk jetzt vorbei. Doch dann kommt das grausame Erwachen. Ellida weiß mit ihrer frisch gewonnenen Freiheit nichts anzufangen. Erkenntnis. Dann Verzweiflung und allertiefste Depression. Jetzt kann nur noch der Tod Freiheit bedeuten. Sie bittet Wangel, sie zu erlösen, sie umzubringen. Und Wangel fügt sich. Er drückt Ellidas Gesicht in dieses elende Brack-Fjordwasser, das dort immerfort aus dem offenen Fußboden hervordringt.

Man kann über dieses neue Ende streiten. Eines ist Bergmanns ganz eigene Interpretation des Stücks in jedem Fall: konsequent. Konsequent durchdacht und mit großem Spannungsbogen. Atemlos wartet man stets darauf, wie schlimm der nächste Ausraster Ellidas sein wird. Der Versuch, aus dem etwas drögen Ibsen-Stück einen solchen Psychothriller zu kreieren, ist sehr gut gelungen. In einem ebenfalls dem Stück hinzugefügten Epilog erscheinen die noch Lebenden in Ballkleidung, in Smoking und großer Robe. Und schlendern erneut wie Untote umher. Nur Bollested steht entspannt in der Mitte und raucht. Vielleicht, weil er sich anders als die anderen nicht in eine von vornherein zum Scheitern verurteilte Beziehung geflüchtet hat. Großer Applaus zum Saisonauftakt.

Dr. Liane Bednarz studierte Rechtswissenschaften in Passau, Genf und Heidelberg. Sie wurde 2005 zum Dr. iur. promoviert und arbeitet als Rechtsanwältin im Bereich "Mergers & Acquisitions". Liane Bednarz war Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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