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30.05.2021 Whatever you say, say nothing

Ein Epos unvergleichbaren Maßstabs - ein opus der Kriegsberichterstattung

von: GFDK - Reden ist Silber - Sönke C. Weiss

10. Juni 1999. Der Krieg ums Kosovo war offiziell vorbei, und ich durfte wieder ins Land reisen, nachdem mich die Serben rausgeworfen hatten, wie viele andere Reporter auch. Im Grand Hotel Pristina, das seinen Namen gewiß nicht verdient hatte, traf ich zum ersten Mal auf den Magnum-Fotografen Gilles Peress.

Wir freundeten uns an und dokumentierten gemeinsam, was der letzte der Balkankriege insbesondere bei der Zivilbevölkerung, Albaner wie Serben, angerichtet hatte.

Danach trennten sich unsere Wege, wie das so ist bei Kriegsreportern. Bis zum nächsten Konflikt, also. Und mit denen kennt sich der Franzose Gelles Peress, heute 74 Jahre alt, aus: Bosnien, Ruanda, er hat tödliche Gewalt immer hautnah erlebt, alte Schule eben, Robert Capa sei Dank.

Was erstaunlich ist, da der Mann eine so sanfte Ausstrahlung hat, fast seelig. In seinem jüngsten Werk „Whatever you say, say nothing“, seit James Nachtways „Inferno“ das wohl größte Magnum opus der Kriegsberichterstattung, widmet sich der Fotograf dem Nordirland-Konflikt (1969 - 1998), den er von Beginn an mit der Kamera begleitet hat.

Zwei Bände enthalten nichts als Fotos, mehr als 1.000; der dritte Band mit dem Titel „Annals of the North“ ist ein Nachschlagewerk, das Peress mit dem US-Historiker Chris Klatell verfaßt hat, 900 Seiten stark, weitere 200 Peress-Fotos.

Was für eine Geschichte aber erzählt uns Peress: es geht um eine Zeit und einen Ort und um eine Gruppe von Menschen, Freunde, Familien, Opfer, Soldaten, Liebhaber, Denker und Spione.

Das Werk, bis auf den dritten Band, spricht zu uns in einer rein visuellen Sprache, in einer erfundenen Grammatik, die nicht die akademische Geschichte des Konflikts in Nordirland transportiert.

Peress erhebt keinen Anspruch auf Bestimmtheit. Das Wort definitiv wäre an einem Ort unmöglich, an dem jede Geschichte mehrere Seiten hat, und dies würde Peress’ Ziel widersprechen, Fragen anzuregen, nicht passive Akzeptanz zu forcieren.

Peress beansprucht kein Eigentum an den Kämpfen, Geschichten und Ursachen, die sich durch diese Bände ziehen. „Whatever you say, say nothing“ ähnelt Homers Odyssee, es ist ein Epos unvergleichbaren Maßstabs, einzigartig, ehrlich und in seiner Gänze dem Frieden verpflichtet.

Der Steidl-Verlag (www.steidl.de) war mutig genug, dieses atemberaubende Zeitzeugnis zu verlegen. Der Preis von 350 Euro schreckt vielleicht zunächst ab, sollte es aber nicht, die Bände sind zeitlos und von einem unschätzbaren Wert an sich.

(„Annals of the North“ ist für 75 Euro auch einzeln erhältlich.) „Whatever you say, say nothing“ nimmt den Betrachter wie kaum ein anderer mir bekannter Fotoband mit auf eine unvergessliche Reise. Schon beim ersten Bild habe ich gefühlt: Ich bin in Belfast angekommen, und die Nacht bricht herein...

Sönke C. Weiss

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