Mit Andrea Wenzl als Luise und Michael Klammer in der Rolle des Ferdinand, am Münchner Residenztheater Fotos:(c) Horn
Vielleicht sollten Paare wie Ferdinand und Luise heutzutage Tandem fahren. Denn Tandemfahren „bringt mehr als jede Paartherapie“, wie der Grazer Schriftsteller Clemens J. Setz gerade gegenüber dem österreichischen „Standard“ feststellte. Auf dem Tandem könne man „nicht lügen: Wenn da einer aufhört, seinen Part zu tun, merkt das der andere sofort. Auf dem Tandem kann man sich auch nicht rausreden. Gleichzeitig lernt man aber auch, dem Partner zu vertrauen."
Kein Vertrauen, keine erfüllende Liebe
Gleich vorweg: Fehlendes Vertrauen ist für Regisseurin Amélie Niermeyer der Schlüssel für das Scheitern der Liebe zwischen Schillers beiden Protagonisten: „Diese Liebe hätte auch ohne Intrige keine Sicherheit, weil das Vertrauen fehlt“ und „Ferdinand fällt auf die Intrige rein, weil er nicht vertraut“, sagte sie gegenüber der Münchner Abendzeitung.
Und so zeigt Niermeyer ihr persönliches Lieblingsstück, das sie nun auf Einladung von Residenztheater-Intendant Martin Kusej erstmalig inszeniert, als emotionalen Höllenritt zweier delirierend Liebender, der geradewegs hinabführt in den gemeinsamen Tod. Einen Tod, der Luise (Andrea Wenzl) und Ferdinand (Michael Klammer) im Liebeswahn so süßlich erscheint wie die vergiftete Limonade, die beide schließlich umbringt.
Das Setting von Schillers 1784 uraufgeführtem Meisterwerk kommt in der Niermeyer-Version kühl und puristisch daher. Die ansonsten dunkle Bühne (Stéphanie Laimé) wird von einem beigen, raumgreifenden Gummi-Kubus dominiert, der immer wieder gedreht wird, sich also mal spitz, mal flächig präsentiert. Den Figuren lässt er dadurch wenig Raum. Gespielt wird „Kabale und Liebe“ auf schwarzer Asche.
Ferdinand und Luise sind ein leidenschaftliches Sturm-und-Drang-Paar, aufgeschrieben vom gerade einmal 23-jährigen Schiller. In München 2013 scheitern die beiden allerdings nicht – wie in der Urfassung – primär an den Standesgrenzen, die die Heirat zwischen der Tochter des kleinbürgerlichen Musikers Miller und dem adligen Sohn des Präsidenten an einem deutschen Fürstenhof unmöglich machen. Nein, heute gehen sie vor allem an der Radikalität und Absolutheit, an der bedingungslosen Anbetung ihrer Liebe zugrunde, in der auf Seiten Ferdinands zugleich eine große Verblendung liegt.
Schmerz versus Unreife
Während Andrea Wenzl als Luise die wahrhaft Liebende gibt, fehlt Ferdinand dieser Tiefgang. Er ist vor allem berauscht von einer Idee von Liebe, mehr verliebt in die Liebe als wirklich liebend. Wer gerade „1913“ von Florian Illies gelesen hat, fühlt sich vielleicht an Franz Kafkas Liebe zu Felice Bauer erinnert. Auch damals liebte man aneinander vorbei; kreiste man letztlich mehr um sich selbst als um das Objekt der Begierde.
Als Idee hat eine solche „Verheutigung“ von Schillers wildem Sturm-und-Drang Stück gewiss etwas Modernes, Jetztzeitiges. Standesgrenzen haben im 21. Jahrhundert deutlich an Bedeutung verloren. Leider jedoch wirkt das Gefälle der geistigen und emotionalen Reife von Niermeyers Ferdinand und Luise, wenn auch in Schillers Stück im Ansatz so angelegt, zu groß.
Andrea Wenzls herausragende Luise spielt diesen infantil-trotteligen, vor geschwätzigem Pathos triefenden und zu kindlich-unreifen Wutausbrüchen neigenden Ferdinand buchstäblich an die Wand. Bewegter Mann vor bewegtem Kubus. Nicht mehr.
Inferno der Gefühle
Andrea Wenzls Luise wird so zum Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung. Sie ist es, die das Publikum in ihren Bann zieht. Virtuos. Ganz Schmerzensfrau. Leid. Depression. Verzweifelte Liebe. Schreie. Tränen. Leidenschaftliche Küsse. Ein düsteres Gemüt. Eine große Depressivität. Hell sind hier nur ihre blonden Haare, ist nur der weiße Kragen der ansonsten stets schwarz gekleideten Musikertochter.
Aber eines ist die zierliche Erscheinung mit der rauhen und durchdringenden Stimme dort oben auf der Bühne nicht: schwach. Luise strahlt zu jedem Zeitpunkt Herrschaftswissen aus. Sie ahnt die Katastrophe. Die Katastrophe scheint sogar in ihr angelegt zu sein. Und so steigt sie bewusst hinab in den leidenden Abgrund, beschwört die Liebe umso stärker, je auswegloser die Situation erscheint. Während alle anderen Figuren durch enge Türen in den Kubus ein- und wieder austreten, bleibt Luise durchweg außen vor. Mal als Akteurin. Mal einfach nur als stille Beobachterin am Rande des Geschehens.
Der infantile Ferdinand, der größenwahnsinnige Wurm
Michael Klammer hingegen spielt einen infantilen Ferdinand, ein Fähnchen im Wind der eigenen Emotionen. Seine Liebesschwüre wirken plappernd, hingesäuselt, emotional so unreif wie seine ganze Person. Ganz anders als etwa der junge Klaus-Maria Brandauer in der legendären Burgtheater-Inszenierung Klingenbergs aus dem Jahr 1975 ist Klammers Ferdinand nicht der distinguierte Edelmann mit stürmischer Seele, sondern ein großes plumpes Kind, das binnen Sekunden zwischen Tränen, Lachen und kolossalen Wutausbrüchen hin und her changiert und sich obendrein aus einer Art Übersprungshandlung die Kleider vom Leib reißt.
Und diese Kleider sind so zusammengestückelt wie Ferdinands emotionaler Setzkasten: Graue Stoffstiefel, ausgebeulte Hose, kariertes Sakko mit apfelgrünem Innenfutter und ein ärmelloser Pullover im Missoni-Style. Klar, Michael Klammer füllt den so angelegten Ferdinand gut aus. Ja, er spielt ihn sogar richtig gut. Aber die Frage bleibt, ob die Rolle von der Regie tatsächlich so gut angelegt ist. Denn es wirkt schon arg unglaubwürdig, dass die ernste Luise eine so zappelige Erscheinung liebt. Da beißt sich was. Und daran vermögen auch die innigen Küsse wenig zu ändern.
Eine Stärke in Niermeyers Inszenierung ist der von ihr gesetzte Fokus auf „Wurm“ (Shenja Lacher). Wurms Rolle bei Schiller: Er möchte Luise zur Frau haben, kann davon aber weder sie noch ihren Vater überzeugen. Der Verschmähte verrät Ferdinands Vater die amour fou mit Luise und ersinnt die Kabale, die Intrige, welche die beiden auseinanderbringen soll. Luise soll sich Wurms perfidem Plan zufolge Ferdinand gegenüber „verdächtig machen“: Sie soll zu diesem Zweck erpresst werden, einen Brief an den Hofmarschall von Kalb zu schreiben, in dem sie diesem eine unwahre Liebe gesteht, was dann natürlich Ferdinand zugetragen werden soll.
Dieses Ansinnen ist ganz im Sinne von Ferdinands Vater, der seinen Filius mit Lady Milford, der Mätresse des Fürsten, verheiraten will, um so seine eigene Stellung am Hof zu festigen. Das alles ist bekannt. Auch dass Wurm auf der Bühne oft als schmieriger Kerl gezeigt wird. So auch bei Niermeyer: mit fettigen Haaren, beiger Lederhose- und -weste, dunkelbraunem Hemd samt ebensolcher Krawatte im Möchtegern-Retro-Style. Ja, Wurm wäre gerne cool. Ist er aber nicht. Er bleibt ein öliger Spießer, der zwar die E-Gitarre rausholt, auf dieser dann aber nur eine italienische Schmonzette zum Besten gibt.
Niermeyer geht nun aber einen Schritt weiter: sie legt einen größenwahnsinnigen Charakter frei, einen narzisstisch gekränkten Außenseiter, dem das „Kinn herausgequollen“ ist, wie Luises Vater voller Abscheu sagt. Shenja Lacher zeigt einen Wurm, der seine narzisstische Kränkung durch Allmachtsphantasien kompensiert und voller Wut von der erträumten Herrschaft über andere fabuliert. Nein, das steht so nicht in Schillers Originaltext. Aber genau diese Zugabe, diese Akzentuierung, dieser psychologische Zoom auf Wurms verdorbene Außenseiterseele, die Freilegung des hässlichen inneren Anlitzes hebt Schillers Klassiker hinüber ins Heute.
Der alte Miller
Die charakterliche Antipode Wurms und Ferdinands ist Luises Vater, der alte Miller, glänzend verkörpert von Götz Schulte. Der als selbstbewusst angelegte bürgerliche Musiker zeigt Haltung, steht immer kerzengerade auf der Bühne, in Weste, Gehrock und – als Coolness-Element – schwarzer Lederhose.
Durch die rigorose Streichung von Luises sozial überambitionierter Mutter kommt die innige Vater-Tochter-Beziehung besonders gut zum Tragen. Ja, ganz sicher: Amélie Niermeyers Miller liebt seine Tochter über alle Maßen, ist tief verzweifelt, will ihre Seele retten, aber sieht sie doch unaufhörlich näher an den Abgrund heranrutschen. So weint er in seiner Hilflosigkeit. Zeigt das blutende Vaterherz. Zeigt, was wahre Liebe und Empathie sind und kontrastiert so die überhitzte, doch eher dem eigenen Ego dienende Verliebtheit Ferdinands, die bei der ersten Enttäuschung, dem ersten vermeintlichen Verrat sofort in rasende Rachegefühle und Hass umschlägt.
Ferdinands Vater (großartig: Guntram Brattia) hingegen ist ein grober und brutal wirkender Machtmensch in schwarzer Hose, schwarzem Rolli und diesen schwarz-weißen Schuhen eines Al Capone-Gangsters. Ihm gegenüber wirkt der völlig im höfischen Chichi-aufgehende und von nichts anderem schwafelnde Hofmarschall von Kalb (Migues Abrantes Ostrowski) noch komischer. Merkwürdig aber, dass Migues Abrantes Ostrowski im Kalbschen Kostüm zugleich als Kammerdiener Lady Milfords auftritt. Geschenkt: Denn auch als solcher bringt er ein paar heitere Momente in das ansonsten so düstere Drama: Immer wieder wirft er der Lady mit maliziösem Blick edle weiße Perlen wie Knallerbsen mit voller Wucht vor die Füße. Klack, klack, peng. Präsente des Fürsten, die dieser durch den Verkauf von Landeskindern ins Ausland erwarb.
Lady Milford (Hanna Scheibe) ist beim Zusammentreffen mit Ferdinand zunächst ganz leidenschaftlich, mondän und besitzergreifend. Im rostbraunen Paillettenabendkleid und ebensolchen Wasserwellen legt sie aber nach und nach ihren besseren Charakteranteil frei, was durch ihren schlichten dunklen Abendzweiteiler in ihrer Szene mit Luise, gegenüber der sie aber verblasst, weiter unterstrichen wird. Auch bei ihr stellt sich die Frage: kann eine solche Frau Niermeyers Ferdinand lieben?
Das Ende
Aber wie schon am Anfang angekündigt, es kommt auch bei Niermeyer, wie es nach Schiller nun einmal kommen muss: Es geht ans Sterben. Ein Limonade-Sterben zwar, aber Tod ist eben Tod. Und dass auch in einer Limonadenvergiftung großes Gefühl stecken kann, verdanken wir der souveränen Schmerzensfrau Luise. Sie allein schiebt den Kubus nach hinten weg, schafft Platz zum Sterben. Als sie Ferdinand gesteht, dass ihr Brief erzwungen wurde, ist dieser wie immer überfordert. Luise aber nimmt den Tod hin. Souverän bis zum Schluss. Wenn also Amélie Niermeyer in München Maßstäbe gesetzt hat, dann ganz sicher mit ihrer eindrucksvollen Luise.
Dr. Liane Bednarz studierte Rechtswissenschaften in Passau, Genf und Heidelberg. Sie wurde 2005 zum Dr. iur. promoviert und arbeitet als Rechtsanwältin im Bereich "Mergers & Acquisitions". Liane Bednarz war Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung und schrieb für die "Westfalenpost Schwelm".